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Anmerkung zu:BVerwG 1. Senat, Urteil vom 21.11.2024 - 1 C 24/23
Autor:Dr. Robert Keller, VRiBVerwG
Erscheinungsdatum:05.05.2025
Quelle:juris Logo
Normen:§ 60 AufenthG 2004, § 137 VwGO, § 77 AsylVfG 1992, § 78 AsylVfG 1992, § 29 AsylVfG 1992, § 1 AsylVfG 1992, § 35 AsylVfG 1992, § 36 AsylVfG 1992, EURL 32/2013
Fundstelle:jurisPR-BVerwG 9/2025 Anm. 1
Herausgeber:Verein der Bundesrichter bei dem Bundesverwaltungsgericht e.V.
Zitiervorschlag:Keller, jurisPR-BVerwG 9/2025 Anm. 1 Zitiervorschlag

Beurteilung der allgemeinen abschiebungsrelevanten Lage für nichtvulnerable Schutzberechtigte in Italien



Leitsatz

Nichtvulnerablen Personen, denen in Italien internationaler Schutz zuerkannt worden ist, drohen aktuell bei einer Rückkehr nach Italien keine mit Art. 4 GRC unvereinbaren Lebensbedingungen. Es besteht keine beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass sie in eine Lage extremer materieller Not geraten, die es ihnen nicht erlaubt, ihre elementarsten Grundbedürfnisse hinsichtlich Unterkunft, Verpflegung und Hygiene zu befriedigen. Das gilt auch für weibliche Schutzberechtigte.



A.
Problemstellung
Mit dem Urteil hat das BVerwG erstmals eine Sachentscheidung im Rahmen des Verfahrens der sogenannten Tatsachenrevision nach § 78 Abs. 8 AsylG getroffen und damit „Rechtsgeschichte“ (so Dörig, NVwZ 2025, 415) geschrieben. Gegenstand der Entscheidung ist die Beurteilung der allgemeinen abschiebungsrelevanten Lage in Italien für nichtvulnerable Personen.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Die in Italien als Flüchtling anerkannte Klägerin wendet sich gegen die Ablehnung ihres Asylantrags als unzulässig und die Androhung ihrer Abschiebung nach Italien.
Die 1966 geborene Klägerin ist syrische Staatsangehörige. Sie ist verwitwet und hat volljährige Kinder. Nach einem Voraufenthalt in Italien stellte sie einen Asylantrag in Deutschland. Mit dem hier angefochtenen Bescheid lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Asylantrag der Klägerin nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG als unzulässig ab, stellte fest, dass Abschiebungsverbote i.S.v. § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG hinsichtlich Italiens nicht vorlägen, und drohte ihr die Abschiebung nach Italien oder in einen anderen Staat, in den sie einreisen dürfe oder der zu ihrer Rückübernahme verpflichtet sei, an. Eine Abschiebung nach Syrien dürfe nicht erfolgen. Die Vollziehung dieser Abschiebungsandrohung wurde ausgesetzt. Weiter erließ das Bundesamt ein Einreise- und Aufenthaltsverbot von 30 Monaten, beginnend mit dem Tag der Abschiebung.
Die Klage ist in den Vorinstanzen erfolglos geblieben. Das OVG hat ausgeführt: Die Anfechtungsklage gegen die Unzulässigkeitsentscheidung sei unbegründet, da die Voraussetzungen des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG vorlägen. Der Klägerin sei in einem anderen Mitgliedstaat (Italien) internationaler Schutz gewährt worden. Es sei davon auszugehen, dass ihr dieser Status nicht allein wegen ihrer längerfristigen Abwesenheit entzogen worden sei und sie nach einer Rückkehr unionsrechtsgemäß erneut einen Aufenthaltstitel erhalten werde. Schutzberechtigte ohne individuelle Sonderrisikofaktoren hätten in Italien trotz einer dort drohenden Obdachlosigkeit auch keine mit Art. 4 GRC unvereinbare Aufnahmesituation zu erwarten. Sie erführen in dieser Situation eine noch hinreichende Unterstützung zur Befriedigung ihrer elementarsten Grundbedürfnisse. Ihnen stehe zudem die zumutbare Möglichkeit offen, ihre eigene Situation durch Aufnahme einer Beschäftigung aktiv zu verbessern. Die Klägerin gehöre keiner besonders vulnerablen Personengruppe an. Das OVG hat die Revision gegen seinen Beschluss nach § 78 Abs. 8 AsylG zugelassen, weil es von der Beurteilung der allgemeinen abschiebungsrelevanten Lage in Italien durch ein anderes OVG (OVG Münster, Urt. v. 20.07.2021 - 11 A 1674/20.A) abgewichen ist.
Das BVerwG hat die zulässige Revision als unbegründet zurückgewiesen. Prüfungsgegenstand der (Tatsachen-)Revision nach § 78 Abs. 8 AsylG ist – neben den von Amts wegen stets zu prüfenden, hier unzweifelhaften Zulässigkeitsvoraussetzungen der Klage und Berufung – allein die Beurteilung der allgemeinen asyl-, abschiebungs- oder überstellungsrelevanten Lage in einem Herkunfts- oder Zielstaat (§ 78 Abs. 8 Satz 3 AsylG), hier der abschiebungsrelevanten Lage im Zielstaat Italien. Der Begriff der Beurteilung umfasst sowohl den Prüfungsmaßstab in rechtlicher Hinsicht als auch die Feststellung und Würdigung der tatsächlichen Erkenntnislage zwecks Subsumtion unter die rechtlichen Vorgaben. In dem hierfür erforderlichen Umfang ist das BVerwG abweichend von § 137 Abs. 2 VwGO nicht an die in dem angefochtenen Urteil getroffenen tatsächlichen Feststellungen gebunden. Die Befreiung von der Bindungswirkung des § 137 Abs. 2 VwGO beschränkt sich auf die allgemeine asyl-, abschiebungs- oder überstellungsrelevante Lage; sie erfasst hingegen nicht auch Tatsachenfeststellungen zu individuellen Umständen in der Person des jeweiligen Klägers, die sich positiv oder negativ auf die Gefahrenprognose auswirken können. Eine weitere Tatsachenermittlung oder Sachaufklärung zu den individuellen Schutzgründen und eine diesbezügliche Beweisaufnahme findet nicht statt (BT-Drs. 20/4327, S. 44).
Bezugsrahmen der Beurteilung der allgemeinen Lage ist der von der Divergenz betroffene, abstrakt bestimmte Personenkreis, der zumindest so weit gezogen werden muss, dass er die jeweils klagende Person nach den – insoweit für das BVerwG gemäß § 137 Abs. 2 VwGO grundsätzlich bindenden – Feststellungen des OVG zu deren individuellen Verhältnissen einschließt. Danach ist hier die Gruppe der nichtvulnerablen Drittstaatsangehörigen in den Blick zu nehmen, denen in Italien internationaler Schutz zuerkannt worden ist. Dieser Personenkreis umfasst bezogen auf den Zielstaat Italien alle volljährigen Schutzberechtigten ohne minderjährige Kinder, die erwerbsfähig sind und nicht an einen besonderen Schutzbedarf begründenden Krankheiten leiden. Hierzu zählt nach den bindenden Feststellungen des Berufungsgerichts auch die Klägerin, die sich mit 57 Jahren weiterhin im arbeitsfähigen Alter befindet, keine minderjährigen Kinder hat und auch keine derart erheblichen gesundheitlichen Einschränkungen aufweist, dass ihre Arbeitsfähigkeit beeinträchtigt oder ein erhöhter Schutzbedarf festzustellen wäre. Mit dem weiblichen Geschlecht ist bei international Schutzberechtigten im Zielstaat Italien keine erhebliche Erhöhung des Risikos verbunden, in eine Situation extremer materieller Not zu geraten. Um eine in dem betreffenden Verfahren den Instanzenzug abschließende Entscheidung zu treffen, hat das BVerwG aus der von ihm eigenständig vorzunehmenden Beurteilung der allgemeinen abschiebungs- oder überstellungsrelevanten Lage in einem Herkunfts- oder Zielstaat alle erforderlichen rechtlichen Konsequenzen für weitere Entscheidungen wie hier die Abschiebungsandrohung und das Einreise- und Aufenthaltsverbot zu ziehen. Nur insofern sind diese von der allein als Tatsachenrevision zugelassenen Revision erfasst. Eine davon unabhängige Überprüfung auf Bundesrechtsverstöße jeglicher Art findet dagegen nicht statt. § 78 Abs. 8 Satz 3 AsylG beschränkt nicht nur die zulässigen Revisionsgründe, sondern auch die Prüfungskompetenz des Revisionsgerichts; als Spezialregelung schließt die Vorschrift den Rückgriff auf § 137 Abs. 1 VwGO und den Grundsatz der Vollrevision (§ 137 Abs. 3 Satz 2 VwGO) aus.
Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der allgemeinen Lage ist der in § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG genannte Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des BVerwG. Gemäß § 78 Abs. 8 Satz 5 AsylG berücksichtigt das BVerwG dafür diejenigen herkunfts- oder zielstaatsbezogenen Erkenntnisse, die von den in Satz 1 Nr. 1 genannten Gerichten verwertet worden sind, die ihm zum Zeitpunkt seiner mündlichen Verhandlung oder Entscheidung von den Beteiligten vorgelegt oder die von ihm beigezogen oder erhoben worden sind. Vorrangig gelten auch hier die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die gerichtliche Sachaufklärungspflicht: Als über allgemeine asyl- und abschiebungsrelevante Situationen befindendes Tatsachengericht ist das BVerwG verpflichtet, auf der Grundlage tagesaktueller Erkenntnisse zu entscheiden und dabei alle aktuellen Erkenntnismittel von Relevanz zu berücksichtigen. Welche Erkenntnismittel es in diesem Sinne für relevant hält, unterliegt seiner fachgerichtlichen Einschätzung. Die Frage, ob in einem anderen Mitgliedstaat anerkannt Schutzberechtigten eine unmenschliche oder entwürdigende Behandlung droht, die ein Abschiebungsverbot auslöst, erfordert eine aktuelle Gesamtwürdigung der zu der jeweiligen Situation vorliegenden Berichte und Stellungnahmen. Dabei kommt regelmäßigen und übereinstimmenden Berichten von internationalen Nichtregierungsorganisationen besondere Bedeutung zu.
Nach diesem Prüfungsprogramm ist die zutreffend mit der Anfechtungsklage angegriffene Unzulässigkeitsentscheidung rechtlich nicht zu beanstanden. Die Ablehnung des Asylantrags der Klägerin als unzulässig beruht auf § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG. Nach dieser Vorschrift ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz i.S.d. § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt hat, diesem also entweder die Flüchtlingseigenschaft oder die Eigenschaft als subsidiär Schutzberechtigter zuerkannt hat. Diese stets im Einzelfall festzustellende Voraussetzung unterliegt hier nicht der Überprüfung; von ihrem Vorliegen ist vielmehr nach den insoweit bindenden tatsächlichen Feststellungen des OVG auszugehen.
Gleichwohl kann – wie das BVerwG unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des EuGH im Einzelnen ausführt – eine auf diese Vorschrift gestützte Unzulässigkeitsentscheidung aus unionsrechtlichen Gründen rechtswidrig sein. Das ist der Fall, wenn die Lebensverhältnisse, die den Betroffenen als anerkannten Schutzberechtigten in dem anderen Mitgliedstaat erwarten würden, ihn der ernsthaften Gefahr aussetzen würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung i.S.v. Art. 4 GRC zu erfahren. Unter diesen Voraussetzungen ist es den Mitgliedstaaten untersagt, von der durch Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der RL 2013/32/EU eingeräumten Befugnis Gebrauch zu machen, einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abzulehnen. Verstöße gegen Art. 4 GRC im Mitgliedstaat der anderweitigen Schutzgewährung sind damit nicht nur bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit einer Abschiebungsandrohung zu berücksichtigen, sondern führen bereits zur Rechtswidrigkeit der Unzulässigkeitsentscheidung.
Systemische oder allgemeine oder bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen fallen nur dann unter Art. 4 GRC, wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen, die von sämtlichen Umständen des Falls abhängt und die dann erreicht wäre, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaates zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre. Diese Schwelle ist selbst bei durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern diese nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund deren die betreffende Person sich in einer solch schwerwiegenden Situation befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann. Ein ernsthaftes Risiko eines Verstoßes gegen Art. 4 GRC und Art. 3 EMRK besteht nicht bereits dann, wenn nicht sicher festzustellen ist, ob im Falle einer Rücküberstellung die Befriedigung der bezeichneten Grundbedürfnisse sichergestellt ist, sondern nur für den Fall, dass die Befriedigung eines der bezeichneten Grundbedürfnisse mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht zu erwarten ist und der Drittstaatsangehörige dadurch Gefahr läuft, erheblich in seiner Gesundheit beeinträchtigt zu werden oder in einen menschenunwürdigen Zustand der Verelendung versetzt zu werden.
Für die Erfüllung der vorbezeichneten Grundbedürfnisse gelten – gerade bei nichtvulnerablen Personen – nur an dem Erfordernis der Wahrung der Menschenwürde orientierte Mindestanforderungen. Dabei sind nicht nur staatliche Unterstützungsleistungen, sondern auch Unterstützungsangebote nichtstaatlicher Hilfsorganisationen zu berücksichtigen.
Der Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erfordert eine zeitliche Nähe des Gefahreneintritts. Die Gefahr muss in dem Sinne konkret sein, dass die drohende Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit oder der Würde der Person in einem solchen engen zeitlichen Zusammenhang mit der Abschiebung durch den Vertragsstaat (hier: EU-Mitgliedstaat) eintritt, dass bei wertender Betrachtung noch eine Zurechnung zu dieser Abschiebung – in Abgrenzung zu späteren Entwicklungen im Zielstaat oder gewählten Verhaltensweisen des Ausländers – gerechtfertigt erscheint. Wo die zeitliche Höchstgrenze für einen solchen Zurechnungszusammenhang im Regelfall zu ziehen ist, ist keiner generellen Bestimmung zugänglich. Die Berücksichtigung anfänglich gewährter Hilfen darf nicht dazu führen, den mit Art. 3 EMRK intendierten Schutz durch eine starre zeitliche Bestimmung seiner Reichweite zu beeinträchtigen.
In der Zusammenschau dieser Kriterien ergibt sich, dass die Gefahr eines ernsthaften Schadenseintritts nicht schon dann gegeben ist, wenn zu einem beliebigen Zeitpunkt nach der Rückkehr in das Heimatland eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht. Maßstab für die im Rahmen der Prüfung des Art. 4 GRC anzustellende Gefahrenprognose ist vielmehr grundsätzlich, ob der vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer nach seiner Rückkehr, ggf. durch ihm gewährte Rückkehrhilfen oder Unterstützungsleistungen, in der Lage ist, seine elementarsten Bedürfnisse über einen absehbaren Zeitraum zu befriedigen. Nicht entscheidend ist hingegen, ob das Existenzminimum eines Ausländers in dessen Herkunftsland nachhaltig oder gar auf Dauer sichergestellt ist. Kann der Rückkehrer Hilfeleistungen in Anspruch nehmen, die eine Verelendung innerhalb eines absehbaren Zeitraums ausschließen, so kann Abschiebungsschutz ausnahmsweise nur dann gewährt werden, wenn bereits zum maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt der letzten behördlichen oder gerichtlichen Tatsachenentscheidung davon auszugehen ist, dass dem Ausländer nach dem Ablauf dieser Unterstützungsmaßnahmen in einem engen zeitlichen Zusammenhang eine Verelendung mit hoher Wahrscheinlichkeit droht. Je länger der Zeitraum der durch Hilfeleistungen abgedeckten Existenzsicherung ist, desto höher muss die Wahrscheinlichkeit einer Verelendung nach diesem Zeitraum sein.
Gemessen daran hat das Berufungsgericht die allgemeine abschiebungsrelevante Lage von in Italien anerkannten, nichtvulnerablen Schutzberechtigten im Ergebnis zutreffend dahin beurteilt, dass diese nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit unabhängig von ihren persönlichen Entscheidungen in eine Lage extremer materieller Not geraten werden, die es ihnen nicht erlaubt, ihre elementarsten Grundbedürfnisse hinsichtlich Unterkunft, Ernährung und Hygiene zu befriedigen. Diese Einschätzung erweist sich auf der Grundlage der für das BVerwG maßgeblichen aktuellen Erkenntnislage als zutreffend.
Das BVerwG befasst sich unter verschiedenen tatsächlichen Aspekten in aller Ausführlichkeit und unter Würdigung einer Vielzahl von Erkenntnismitteln mit der aufgeworfenen Problematik. Danach erhalten international Schutzberechtigte, falls ihr Aufenthaltstitel abgelaufen ist, bei einer Rückkehr nach Italien voraussichtlich erneut einen Aufenthaltstitel, und sie können und müssen sich bei der Wohnortgemeinde registrieren lassen. Dies zugrunde gelegt ist es hinreichend wahrscheinlich, dass sie eine noch menschenwürdige Unterkunft finden und ihre weiteren Grundbedürfnisse, insbesondere den Verpflegungsbedarf, zwar nicht durch staatliche Sozialleistungen, aber durch Hilfsangebote karitativer Einrichtungen sowie durch eigenes Erwerbseinkommen decken können. Eine medizinische Grundversorgung ist gewährleistet.
Die Erwägungen, auf denen dieses Ergebnis beruht, können hier nicht im Einzelnen wiedergegeben werden. Im Hinblick auf die Möglichkeit, eigenes Erwerbseinkommen zu erzielen, weist das BVerwG zusammenfassend darauf hin, dass international Schutzberechtigte in Italien nach der geltenden Rechtslage den gleichen ungehinderten Zugang zum Arbeitsmarkt haben wie italienische Beschäftigte. Insbesondere berechtigt der Aufenthaltsstatus zur Erwerbstätigkeit. Zur Arbeitsplatzsuche und beruflichen Qualifizierung stehen ihnen staatliche sowie nichtstaatliche Unterstützungsmöglichkeiten und -programme zur Verfügung. Ausländer machen etwa 10% der gesamten italienischen Erwerbsbevölkerung aus. Die Beschäftigungsquote der Gesamterwerbsbevölkerung entspricht etwa der von „Zuwanderern“, wobei sie bei Frauen im Vergleich zu Männern niedriger liegt. Die größten Beschäftigungssektoren für „Migranten“ sind der Pflegedienstleistungssektor, die Landwirtschaft, das Baugewerbe sowie der Sektor Handel, Verkehr, Wohnungswesen und Gastronomie. Es besteht ein Beschäftigungsmarkt gerade auch für geringfügig Qualifizierte, die einen nicht unerheblichen Teil des Bruttoinlandsprodukts erwirtschaften. Der italienische Arbeitsmarkt ist – nicht zuletzt auch aus demografischen Gründen – auf Migration angewiesen, was etwa durch die Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte, insbesondere als Saisonarbeitskräfte belegt wird. International Schutzberechtigte erhalten knapp 80% des Durchschnittsgehalts von Beschäftigten mit italienischer Staatsangehörigkeit, und es bestehen fast keine Unterschiede im Vergleich zu den in Italien arbeitenden Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaates der Europäischen Union. Schattenwirtschaft ist in Italien weit verbreitet und deckt im Durchschnitt der vergangenen Jahre etwa 20% des Bruttoinlandsprodukts ab, wobei dort geschätzt mindestens 3,7 Millionen Menschen arbeiten. Italien hat eine Reihe von Maßnahmen zur Bekämpfung der Schwarzarbeit, insbesondere in der Landwirtschaft, ergriffen. Sanktionen richten sich dabei erkennbar allein gegen kriminelle Arbeitgeber, etwa wegen Steuerhinterziehung, Nichtabführen von Sozialabgaben, fehlender Anmeldung und Ausbeutung von Arbeitnehmern sowie illegaler Anwerbungsmethoden und Menschenhandels. Betroffenen Arbeitnehmern wird dagegen Hilfe als Opfer von Ausbeutung und Unterstützung zur Umwandlung in angemeldete Arbeitsverhältnisse angeboten. Die aktuell auf einem Tiefstand von rund 6% angelangte Arbeitslosenquote und der erkennbare Bedarf an geringqualifizierten Beschäftigten belegen, dass es international Schutzberechtigten in Italien mit hinreichender Wahrscheinlichkeit möglich erscheint, ggf. durch die angebotenen Unterstützungsmaßnahmen bei der Arbeitsvermittlung, eine Beschäftigung auf dem „legalen“ Arbeitsmarkt zu finden. Auch wenn die Beschäftigungsquote ausländischer Frauen geringer ist, belegt sie ebenfalls einen hinreichenden Beschäftigungsbedarf. Maßgebliche Faktoren für die Erlangung einer Beschäftigung sind dabei einerseits Eigeninitiative bei der Arbeitsplatzsuche und der Wille, das erforderliche Verfahren bei der staatlichen Arbeitsverwaltung zu durchlaufen. Soweit es dem genannten Personenkreis weitgehend an lokalen Netzwerken, beruflichen Qualifikationen und Sprachkenntnissen fehlt, wird ebenfalls Unterstützung angeboten. Mit dem erzielbaren Erwerbseinkommen lassen sich – ggf. unter zusätzlicher Inanspruchnahme sonstiger Unterstützungsangebote – jedenfalls die elementarsten Bedürfnisse i.S.d. strengen Maßstabs der oben geschilderten Rechtsprechung decken. Selbst wenn dies nicht gelingen sollte, erscheint eine informelle Erwerbstätigkeit im Bereich der Schattenwirtschaft möglich und zumutbar. Wie deren Anteil an der Gesamtwirtschaft Italiens belegt, besteht auch hier erheblicher Beschäftigungsbedarf.
Zusammenfassend lassen sich bei den Aufnahme- und Lebensbedingungen der Personengruppe der nichtvulnerablen Schutzberechtigten in Italien aktuell keine Schwachstellen feststellen, die die für eine Verletzung von Art. 4 GRC erforderliche besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen. Es besteht keine beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass sie bei einer Rückkehr nach Italien in eine Lage extremer materieller Not geraten, die es ihnen nicht erlaubt, ihre elementarsten Grundbedürfnisse hinsichtlich Unterkunft, Verpflegung und Hygiene zu befriedigen. Das gilt auch für weibliche Schutzberechtigte. Hat die Unzulässigkeitsentscheidung somit Bestand, gilt gleiches auch für die auf die §§ 35, 36 Abs. 1 AsylG gestützte Abschiebungsandrohung sowie die übrigen Regelungen in dem angegriffenen Bescheid.


C.
Kontext der Entscheidung
Während die Entscheidung verfahrensrechtlich Neuland betritt, knüpft sie im Hinblick auf den Maßstab, der inhaltlich an den angefochtenen Bescheid anzulegen ist, an die Rechtsprechung des EuGH und des BVerwG zum Verstoß einer Unzulässigkeitsentscheidung gegen Art. 4 GRC an, die schlagwortartig unter „Bett, Brot und Seife“ bekannt geworden ist (vgl. dazu etwa EuGH, Beschl. v. 13.11.2019 - C-540/17 u.a. „Hamed u.a.“; EuGH, Urt. v. 19.03.2019 - C-297/17 u.a., „Ibrahim u.a.“; BVerwG, Urt. v. 24.04.2024 - 1 C 8/23 Rn. 9 ff. m.w.N.).
Am selben Tage wie die hier anzuzeigende Entscheidung ist ein Urteil in einer Parallelsache (BVerwG, Urt. v. 21.11.2024 - 1 C 23/23) zu einer somalischen Klägerin ergangen.


D.
Auswirkungen für die Praxis
Die Entscheidung sorgt – über den entschiedenen Fall hinaus – für Klarheit in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht, auch wenn sie an der Pflicht der Verwaltungsgerichte zur tagesaktuellen Erfassung der entscheidungserheblichen Sachlage nichts ändert (vgl. BVerfG, Beschl. v. 12.12.2024 - 2 BvR 1341/24 Rn. 16).



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