juris PraxisReporte

Anmerkung zu:BVerwG 3. Senat, Urteil vom 30.08.2023 - 3 C 15/22
Autor:Stefan Liebler, RiBVerwG
Erscheinungsdatum:06.05.2024
Quelle:juris Logo
Normen:§ 28 StVG, § 4 StVG, § 65 StVG, § 29 StVG
Fundstelle:jurisPR-BVerwG 9/2024 Anm. 1
Herausgeber:Verein der Bundesrichter bei dem Bundesverwaltungsgericht e.V.
Zitiervorschlag:Liebler, jurisPR-BVerwG 9/2024 Anm. 1 Zitiervorschlag

Verwertbarkeit von Alteintragungen bei Fahrerlaubnisentziehung nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem



Leitsatz

Nach der Übergangsbestimmung des § 65 Abs. 3 Nr. 2 Satz 1 StVG ist § 29 StVG in der bis zum Ablauf des 30.04.2014 geltenden Fassung nur hinsichtlich der Tilgung und Löschung von bis zum Ablauf des 30.04.2014 im Verkehrszentralregister gespeicherten Entscheidungen anwendbar, nicht aber für deren Verwertung bei der Berechnung des Punktestands. Die Verwertbarkeit richtet sich nach § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG in der ab dem 01.05.2014 geltenden Fassung. Ein Verwertungsverbot besteht somit nicht mehr bereits ab Tilgung bzw. Tilgungsreife einer Eintragung, sondern erst dann, wenn zusätzlich auch die einjährige Überliegefrist abgelaufen ist.



A.
Problemstellung
Der Kläger wandte sich gegen die Entziehung seiner Fahrerlaubnis auf der Grundlage des Fahreignungs-Bewertungssystems. Zu klären war u.a., nach welcher Regelung sich die Verwertbarkeit von Alteintragungen (Eintragungen im Verkehrszentralregister) richtet.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
I. Die vom Kläger begangenen Verkehrsverstöße hatten zu Eintragungen und Punkten im Verkehrszentralregister und nach der Umstellung auf das Fahreignungs-Bewertungssystem im Fahreignungsregister geführt. Die bis zum Ablauf des 30.04.2014 im Verkehrszentralregister gespeicherten Eintragungen (Alteintragungen) ergaben zehn Punkte (alt), die zum 01.05.2014 in vier Punkte nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem überführt wurden. Nach dem 30.04.2014 erfolgten Eintragungen zu drei weiteren Ordnungswidrigkeiten, die der Kläger vor diesem Stichtag begangen hatte. Sie wurden mit insgesamt vier Punkten bewertet. Im Mai 2015 teilte das Kraftfahrt-Bundesamt dem Beklagten mit, der Kläger habe acht Punkte erreicht. Daraufhin entzog ihm der Beklagte gestützt auf § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG die Fahrerlaubnis. Die nach erfolglosem Widerspruch erhobene Klage hat das VG Greifswald abgewiesen. Das OVG Greifswald hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen.
II. Die Revision des Klägers hatte Erfolg. Das OVG hatte bei der Berechnung des Punktestandes auf den falschen Zeitpunkt, nämlich auf den Erlass des Ausgangsbescheids vom 29.07.2015, abgestellt und nicht auf den Erlass des Widerspruchsbescheids vom 23.02.2016 (1.). Bei Erlass des Widerspruchsbescheids lag der für die Entziehung der Fahrerlaubnis erforderliche Punktestand nicht (mehr) vor. Die Verwertbarkeit der Alteintragungen richtete sich nach § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG in der ab dem 01.05.2014 geltenden Fassung (2.). Die Verlängerung der Verwertbarkeit von Alteintragungen hatte beim Kläger eine verfassungsrechtlich nicht zu beanstandende unechte Rückwirkung zur Folge (3.). Die seit dem 01.05.2014 im Fahreignungsregister gespeicherten Entscheidungen führten zu keiner weiteren Tilgungshemmung (4.). Bei Erlass des Widerspruchsbescheids war bei den berücksichtigten Alteintragungen auch die Überliegefrist von einem Jahr abgelaufen, so dass Löschungsreife und damit ein absolutes Verwertungsverbot eingetreten war (5.).
1. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage bei einer Fahrerlaubnisentziehung ist der Zeitpunkt der letzten behördlichen Entscheidung (BVerwG, Urt. v. 26.01.2017 - 3 C 21/15 Rn. 11 - BVerwGE 157, 235, und BVerwG, Urt. v. 18.06.2020 - 3 C 14/19 Rn. 10 - BVerwGE 168, 316). Daher war hier auf den Erlass des Widerspruchsbescheids vom 23.02.2016 abzustellen. Auf diesen Zeitpunkt hatte auch das Berufungsgericht zunächst verwiesen. Es hatte dann aber bei der Prüfung der Verwertbarkeit der Alteintragungen hiervon abweichend darauf abgestellt, sie hätten zum Zeitpunkt der Entscheidung des Beklagten zur Entziehung der Fahrerlaubnis am 29.07.2015 – also bei Erlass des Ausgangsbescheids – noch verwertet werden dürfen. Für ein Abstellen auf den Erlass des Ausgangsbescheids besteht auch bei einer Fahrerlaubnisentziehung nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem kein sachlicher Grund. Zwar hat der Gesetzgeber dafür nicht anders als bei den bis zum Ablauf des 30.04.2014 geltenden Regelungen des Mehrfachtäter-Punktsystems bestimmt, dass der Inhaber einer Fahrerlaubnis beim Erreichen eines bestimmten Punktestands als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen gilt und ihm die Fahrerlaubnis zu entziehen ist (§ 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG n.F. und § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG a.F.). Zugleich hat er jedoch – in unterschiedlicher Ausgestaltung – an den Zeitablauf anknüpfende Verwertungsverbote vorgesehen. Wegen der Einheit von Ausgangs- und Widerspruchsverfahren (BVerwG, Urt. v. 15.06.2016 - 8 C 5/15 Rn. 22 - BVerwGE 155, 261) muss auch die Widerspruchsbehörde die damit verbundenen Fristen unter Kontrolle halten.
2. Bei Erlass des Widerspruchsbescheids durften die zum Kläger bis zum Ablauf des 30.04.2014 im Verkehrszentralregister gespeicherten Entscheidungen nicht mehr für die Berechnung seines Punktestands herangezogen werden.
a) Zur Anwendung kam das mit Wirkung vom 01.05.2014 mit dem Fünften Gesetz zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes und anderer Gesetze vom 28.08.2013 (BGBl I 2013, 3313) eingeführte Fahreignungs-Bewertungssystem, das mit Wirkung ab dem 05.12.2014 insbesondere hinsichtlich § 4 Abs. 5 und 6 StVG nochmals durch das Gesetz vom 28.11.2014 (BGBl I 2014, 1802) modifiziert worden war. Gemäß § 4 Abs. 5 Satz 1 StVG hat die nach Landesrecht zuständige Behörde gegenüber den Inhabern einer Fahrerlaubnis die unter Nr. 1 bis 3 genannten Maßnahmen stufenweise zu ergreifen, sobald sich in der Summe bestimmte Punktestände ergeben. Ergeben sich acht oder mehr Punkte, gilt der Inhaber einer Fahrerlaubnis nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen und die Fahrerlaubnis ist zu entziehen.
b) § 4 Abs. 5 Satz 5 StVG bestimmt, dass die nach Landesrecht zuständige Behörde für das Ergreifen der Maßnahmen nach Satz 1 auf den Punktestand abzustellen hat, der sich zum Zeitpunkt der Begehung der letzten zur Ergreifung der Maßnahme führenden Straftat oder Ordnungswidrigkeit ergeben hat. Punkte ergeben sich gemäß § 4 Abs. 2 Satz 3 StVG mit der Begehung der Straftat oder Ordnungswidrigkeit, sofern sie rechtskräftig geahndet wird. Punkte hatten sich danach für den Kläger wegen der von ihm am 12.12.2009 (ein Punkt alt), am 20.08.2010 (drei Punkte alt), am 12.02.2011 (drei Punkte alt) und am 01.04.2011 (drei Punkte alt) begangenen Ordnungswidrigkeiten ergeben, die jeweils rechtskräftig geahndet worden waren. Die strafgerichtlichen Entscheidungen waren jeweils bis zum Ablauf des 30.04.2014 im Verkehrszentralregister gespeichert worden (Alteintragungen). Hinzu kamen drei seit dem 01.05.2014 im Fahreignungsregister eingetragene Entscheidungen (Neueintragungen).
c) Die unter dem Mehrfachtäter-Punktsystem entstandenen Punkte waren, da die Rechtsgrundlage für die Fahrerlaubnisentziehung in § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG auf „neue“ Punkte abstellt, in Punkte nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem umzurechnen. Geregelt ist die Umrechnung in § 65 Abs. 3 Nr. 4 StVG; danach entspricht ein vor dem 01.05.2014 erreichter Punktestand von acht bis zehn Punkten einem Stand von vier Punkten nach dem ab dem 01.05.2014 geltenden Fahreignungs-Bewertungssystem.
d) Die sich für den Kläger aus den Alteintragungen ergebenden vier Punkte waren zum Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheids nicht mehr verwertbar. Die Verwertbarkeit richtet sich nach § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG in der Fassung des Gesetzes vom 28.11.2014 (n.F.). Gemäß § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG n.F. dürfen, wenn eine Eintragung im Fahreignungsregister gelöscht ist, die Tat und die Entscheidung dem Betroffenen für die Zwecke des § 28 Abs. 2 StVG nicht mehr vorgehalten und nicht zu seinem Nachteil verwertet werden. Das absolute Verwertungsverbot des § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG n.F. überlagert und begrenzt das Tattagprinzip nach § 4 Abs. 5 Satz 5 bis 7 StVG (BVerwG, Urt. v. 18.06.2020 - 3 C 14/19 Rn. 20 - BVerwGE 168, 316).
§ 29 Abs. 7 Satz 1 StVG n.F. war nach § 65 Abs. 3 Nr. 2 Satz 1 StVG auch auf die Alteintragungen des Klägers anzuwenden. Nach dieser Übergangsregelung werden Entscheidungen, die nach § 28 Abs. 3 StVG in der bis zum Ablauf des 30.04.2014 anwendbaren Fassung im Verkehrszentralregister gespeichert worden und – wie hier – nicht von Nummer 1 erfasst sind, bis zum Ablauf des 30.04.2019 nach den Bestimmungen des § 29 StVG in der bis zum Ablauf des 30.04.2014 anwendbaren Fassung getilgt und gelöscht.
Das danach bis zum Ablauf des 30.04.2014 geltende Recht ist nur auf die Tilgung und Löschung, nicht aber hinsichtlich der Verwertbarkeit der Alteintragungen anzuwenden. Die Verwertung von bis zum Ablauf des 30.04.2014 im Verkehrszentralregister gespeicherten Entscheidungen richtet sich nach § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG in der ab dem 01.05.2014 geltenden Fassung (BVerwG, Beschl. v. 23.02.2022 - 3 B 11/21 Rn. 9 ff. - NJW 2022, 2214). Deshalb dürfen die Entscheidung und die Tat der betroffenen Person nicht mehr – wie das nach § 29 Abs. 8 Satz 1 StVG a.F. noch der Fall war – mit Tilgung bzw. Tilgungsreife, sondern erst mit der Löschung bzw. der Löschungsreife der Eintragung und damit erst dann nicht mehr bei der Berechnung des Punktestands berücksichtigt werden, wenn auch die Überliegefrist von einem Jahr abgelaufen ist.
Die Beschränkung von § 65 Abs. 3 Nr. 2 Satz 1 StVG auf die Tilgung und Löschung ergibt sich zum einen aus dem klaren Wortlaut der Regelung. Dort ist nicht auch von der Verwertung bzw. Verwertbarkeit von Eintragungen zum Nachteil des Betroffenen die Rede. Die Auffassung des Klägers, § 29 Abs. 8 Satz 1 StVG a.F., der ein Verwertungsverbot bereits ab der Tilgung der Eintragung im Verkehrszentralregister angeordnet hatte, sei über § 65 Abs. 3 Nr. 2 Satz 1 StVG weiterhin auf Alteintragungen anwendbar, war daher mit dem Wortlaut der Übergangsbestimmung nicht vereinbar. Eine solche Erstreckung von § 65 Abs. 3 Nr. 2 Satz 1 StVG auf die Verwertbarkeit von Alteintragungen würde zudem dem Sinn und Zweck der Novellierung sowie dem Willen des Gesetzgebers zuwiderlaufen. Er wollte mit der Neuregelung des § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG den bisherigen Einsatzzeitpunkt für ein Verwertungsverbot ändern. Die Tat und die Entscheidung sollten der betroffenen Person erst dann nicht mehr für die Zwecke des § 28 Abs. 2 StVG vorgehalten und zu ihrem Nachteil verwertet werden dürfen, wenn die Eintragung im Fahreignungsregister gelöscht oder jedenfalls löschungsreif ist. Damit wurde der Zeitpunkt für das Einsetzen eines Verwertungsverbots um die in § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG a.F. auch schon nach dem altem Recht vorgesehene Überliegefrist von einem Jahr nach hinten verschoben. Dabei hatte der Gesetzgeber das Risiko rein taktisch motivierter Rechtsmittel im Blick (BT-Drs. 17/12636, S. 20); er wollte während der Überliegefrist nun die aus seiner Sicht für die Praxis sinnvolle Übermittlung und Verwertung für die Zwecke der Fahrerlaubnis auf Probe und des Fahreignungs-Bewertungssystems zulassen (BT-Drs. 17/12636, S. 47). Das zeigt, dass es sich bei der Beschränkung der Anwendung des „alten“ Rechts auf die Tilgung und Löschung von Alteintragungen nicht um ein redaktionelles Versehen gehandelt hat. Hinzu kommt, dass der Gesetzgeber in § 65 Abs. 3 Nr. 2 Satz 4 StVG für die Zeit ab dem 01.05.2019 nur Regelungen für die Berechnung der Tilgungsfrist und die Löschung von Eintragungen, nicht aber für die Verwertung getroffen hat. Würde § 65 Abs. 3 Nr. 2 Satz 1 StVG auch die Verwertbarkeit umfassen, bestünde ab dem 01.05.2019 eine Regelungslücke.
3. Die mit der Anwendung von § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG n. F. verbundene verlängerte Verwertbarkeit von Alteintragungen hatte für den Kläger eine verfassungsrechtlich nicht zu beanstandende unechte Rückwirkung zur Folge.
a) Die Anwendbarkeit von § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG n.F. auf Alteintragungen verschlechtert im Vergleich zur bisherigen Regelung die Rechtslage der betroffenen Fahrerlaubnisinhaber (BVerwG, Urt. v. 18.06.2020 - 3 C 14/19 Rn. 23 f. - BVerwGE 168, 316). Vor der Neuregelung führte nach § 29 Abs. 8 Satz 1 StVG a.F. schon die Tilgung und nicht erst die Löschung einer Eintragung, die auch nach dem alten Recht erst nach einer Überliegefrist von einem Jahr erfolgte (§ 29 Abs. 7 Satz 1 StVG a.F.), zu einem absoluten Verwertungsverbot. § 29 Abs. 8 Satz 1 StVG a.F. sah vor, dass, wenn eine Eintragung im Verkehrszentralregister getilgt ist, die Tat und die Entscheidung dem Betroffenen für die Zwecke des § 28 Abs. 2 StVG – und damit gemäß Nr. 3 für die Ahndung von Verstößen von Personen, die wiederholt im Zusammenhang mit dem Straßenverkehr stehende Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten begangen haben – nicht mehr vorgehalten und nicht zu seinem Nachteil verwertet werden dürfen. Mit § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG n.F. sieht der Gesetzgeber ein solches absolutes Verwertungsverbot nun erst ab der Löschung einer Eintragung, also nach Ablauf der Überliegefrist von einem Jahr vor. Bis zur Löschung lässt er eine begrenzte Verwertung zu. Gemäß § 29 Abs. 6 Satz 3 StVG n.F. darf der Inhalt der Eintragung während der Überliegefrist zu bestimmten Zwecken übermittelt, genutzt oder über ihn eine Auskunft erteilt werden; dazu gehört nach der Nummer 2 dieser Regelung die Übermittlung an die nach Landesrecht zuständige Behörde zur Ergreifung von Maßnahmen nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem nach § 4 Abs. 5 StVG. In der Gesetzesbegründung heißt es, dass im Gegensatz zum bisherigen Wortlaut nun während der Überliegefrist die für die Praxis sinnvolle Übermittlung und Verwertung u.a. für die Zwecke des Fahreignungs-Bewertungssystems zugelassen werde (BT-Drs. 17/12636, S. 47).
b) Das ergab beim Kläger eine verfassungsrechtlich nicht zu beanstandende unechte Rückwirkung.
Solange die Tilgungsfrist für Alteintragungen nach Maßgabe des bis zum Ablauf des 30.04.2014 geltenden Rechts nicht verstrichen war und somit auch nach dem alten Recht kein Verwertungsverbot bestand, handelt es sich um einen noch nicht abgeschlossenen Sachverhalt und damit um eine unechte Rückwirkung (ähnlich für eine Verlängerung des Zeitraums bis zum Eintritt der Verjährung einer Straftat, wenn bei Inkrafttreten der Neuregelung die Tat noch nicht verjährt war: BVerfG, Kammerbeschl. v. 31.01.2000 - 2 BvR 104/00 Rn. 6 ff.). Eine solche Konstellation lag hier vor, denn die Tilgungsfristen der bei der Berechnung des Punktestands des Klägers berücksichtigten Alteintragungen waren zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Neuregelungen am 01.05.2014 noch nicht abgelaufen.
Der Gesetzgeber durfte diese Alteintragungen über § 65 Abs. 3 Nr. 2 Satz 1 StVG i.V.m. § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG n.F. der um ein Jahr verlängerten Verwertungsmöglichkeit unterwerfen. Ihm war es – zumal es sich bei den Maßnahmen nach dem Mehrfachtäter-Punktsystem und dem Fahreignungs-Bewertungssystem nicht um Sanktionen, sondern um Maßnahmen zur Gefahrenabwehr handelt – nicht verwehrt, insoweit eine Verschlechterung der Rechtslage der betroffenen Fahrerlaubnisinhaber herbeizuführen. Die bloß allgemeine Erwartung, das geltende Recht werde unverändert fortbestehen, genießt keinen besonderen verfassungsrechtlichen Schutz, soweit nicht besondere Momente der Schutzwürdigkeit hinzutreten. Doch muss der Gesetzgeber, soweit er für künftige Rechtsfolgen an zurückliegende Sachverhalte anknüpft, dem verfassungsrechtlich gebotenen Vertrauensschutz hinreichend Rechnung tragen. Eine unechte Rückwirkung ist mit den Grundsätzen des Vertrauensschutzes daher nur vereinbar, wenn sie zur Förderung des Gesetzeszwecks geeignet und erforderlich ist und wenn bei einer Gesamtabwägung zwischen dem Gewicht des enttäuschten Vertrauens und dem Gewicht und der Dringlichkeit der die Rechtsänderung rechtfertigenden Gründe die Grenze der Zumutbarkeit gewahrt bleibt (BVerfG, Beschl. v. 07.07.2010 - 2 BvL 1/03 u.a. - BVerfGE 127, 31, 47 f.; BVerwG, Urt. v. 14.04.2021 - 3 C 4/19 Rn. 43).
Das war hier der Fall. Die Gesetzesänderung diente der Effektivierung des Fahreignungs-Bewertungssystems. Sie zielt auf eine Stärkung der Verkehrssicherheit (BT-Drs. 17/12636, S. 17, BT-Drs. 18/2775, S. 9 f.). Dass der Gesetzgeber in der Einzelbegründung zu § 65 Abs. 3 Nr. 3 StVG dann nur knapp auf Praktikabilitätsgründe für die Handhabung der Umstellung im Kraftfahrt-Bundesamt abgestellt hat (BT-Drs. 17/12636, S. 50), ändert nichts an dieser Grundausrichtung des neuen Regelungskonzepts. Die Grenze der Zumutbarkeit für die betroffenen Fahrerlaubnisinhaber wurde nicht überschritten. Ihre Erwartung, das der Gefahrenabwehr dienende Fahrerlaubnisrecht werde nicht zu ihrem Nachteil geändert, genießt keinen besonderen verfassungsrechtlichen Schutz. Bei der gebotenen Gesamtbetrachtung ist zudem in den Blick zu nehmen, dass der Gesetzgeber bei der Umgestaltung des Bewertungssystems nicht nur – insoweit zu Lasten der Betroffenen – die Verwertbarkeit von Alteintragungen verlängert, sondern – zu ihren Gunsten – zugleich die in § 29 Abs. 6 Satz 1 und 2 StVG a.F. vorgesehene Tilgungshemmung abgeschafft hat (BT-Drs. 17/13452, S. 7).
4. Die zum Kläger ab dem 01.05.2014 im Fahreignungsregister gespeicherten Entscheidungen (Neueintragungen) bewirkten keine weitere Tilgungshemmung, auch wenn mit ihnen weitere vor diesem Zeitpunkt begangene Verkehrsverstöße geahndet wurden. Die Übergangsregelung des § 65 Abs. 3 Nr. 2 Satz 2 StVG bestimmt, dass eine Ablaufhemmung nach § 29 Abs. 6 Satz 2 StVG in der bis zum Ablauf des 30.04.2014 anwendbaren Fassung nicht durch Entscheidungen ausgelöst werden kann, die erst ab dem 01.05.2014 im Fahreignungsregister gespeichert werden. Nach dem dort genannten § 29 Abs. 6 Satz 2 StVG a.F. tritt eine Ablaufhemmung auch ein, wenn eine neue Tat vor dem Ablauf der Tilgungsfrist nach Absatz 1 begangen wird und bis zum Ablauf der Überliegefrist (Absatz 7) zu einer weiteren Eintragung führt. Zwar nennt § 65 Abs. 3 Nr. 2 Satz 2 StVG nur die Ablaufhemmung nach § 29 Abs. 6 Satz 2 StVG a.F. und nicht auch die Tilgungshemmung nach Satz 1 dieser Bestimmung. Das rechtfertigt aber nicht den (Gegen-)Schluss, dass auch Neueintragungen die Tilgung nach § 29 Abs. 6 Satz 1 StVG a.F. hemmen. Eine solche Auslegung widerspräche der erklärten Regelungsabsicht des Gesetzgebers. Er wollte mit der Einfügung des Satzes 2 erreichen, dass die Weiterführung der Tilgungshemmung auf die bei Inkrafttreten der Reform vorhandenen und die bereits ausgelösten Ablaufhemmungen beschränkt wird. Eintragungen nach Inkrafttreten der Reform sollten unabhängig von Tattag und Entscheidungsdatum keine Tilgungshemmung mehr auslösen können (BT-Drs. 17/13452, S. 7).
5. Wegen des absoluten Verwertungsverbots aus § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG n.F. ergaben sich daher zum maßgeblichen Zeitpunkt (Erlass des Widerspruchsbescheids) nicht mehr die für eine Fahrerlaubnisentziehung gemäß § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG erforderlichen acht, sondern nur noch vier Punkte. Daher war die Fahrerlaubnisentziehung rechtswidrig.


C.
Kontext der Entscheidung
Mit Urteil vom 18.06.2020 (3 C 14/19 Rn. 20 - BVerwGE 168, 316) hatte das BVerwG geklärt, dass das absolute Verwertungsverbot des § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG n.F. das Tattagprinzip nach § 4 Abs. 5 Satz 5 bis 7 StVG überlagert und begrenzt.


D.
Auswirkungen für die Praxis
Die den Übergang vom Mehrfachtäter- auf das Fahreignungs-Bewertungssystem regelnden Übergangsbestimmungen in § 65 StVG werfen – wie dieser Fall nachdrücklich zeigt – nicht unbeträchtliche Auslegungsprobleme auf. Das BVerwG hat nun klargestellt, dass nach der Übergangsbestimmung in § 65 Abs. 3 Nr. 2 Satz 1 StVG der § 29 StVG in der bis zum Ablauf des 30.04.2014 geltenden Fassung nur hinsichtlich der Tilgung und Löschung von bis zum Ablauf des 30.04.2014 im Verkehrszentralregister gespeicherten Entscheidungen anwendbar ist, nicht aber für deren Verwertung bei der Berechnung des Punktestandes. Die Verwertbarkeit richtet sich nach § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG in der ab dem 01.05.2014 geltenden neuen Fassung. Damit besteht ein Verwertungsverbot nicht mehr schon ab Tilgung bzw. Tilgungsreife einer Eintragung, sondern erst dann, wenn außerdem auch die einjährige Überliegefrist abgelaufen ist. Das führte beim Kläger aber nur zu einer verfassungsrechtlich zulässigen unechten Rückwirkung.



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