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Anmerkung zu:BayObLG München 2. Zivilsenat, Beschluss vom 01.09.2023 - 102 AR 130/23 e
Autor:Anna Tönies-Bambalska, RA'in und FA'in für Internationales Wirtschaftsrecht
Erscheinungsdatum:24.11.2023
Quelle:juris Logo
Normen:§ 29 ZPO, § 39 ZPO, § 36 ZPO, § 35 ZPO, § 690 ZPO, EUV 1215/2012
Fundstelle:jurisPR-IWR 6/2023 Anm. 1
Herausgeber:Prof. Dr. Ansgar Staudinger, Universität Bielefeld
Zitiervorschlag:Tönies-Bambalska, jurisPR-IWR 6/2023 Anm. 1 Zitiervorschlag

Keine Zuständigkeitsbestimmung gemäß § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO nach Wahlrechtsausübung gemäß § 35 ZPO im Mahnverfahren



Leitsatz

Eine Gerichtsstandsbestimmung nach § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO kommt nicht in Betracht, wenn schon bei Mahnbescheidsantrag für den Antragsteller erkennbar ein gemeinsamer besonderer Gerichtsstand für sämtliche Antragsgegner bestand, der Antragsteller aber dennoch als Streitgerichte für den Fall des Widerspruchs die jeweiligen unterschiedlichen (Wohn-)Sitzgerichte der Antragsgegner angegeben hat.



A.
Problemstellung
Grundsätzlich kann bei vorangegangenen Mahnverfahren gegen mehrere Antragsgegner nach Abgabe der Verfahren an die im Mahnbescheidsantrag angegebenen Prozessgerichte das Antragsrecht gemäß § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO gleichzeitig mit der Antragsbegründung ausgeübt werden. Das BayObLG München musste über einen entsprechenden Antrag auf Zuständigkeitsbestimmung gemäß § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO nach Widerspruch im Mahnverfahren und Abgabe an das von der Antragstellerin im Mahnbescheidsantrag angegebene Streitgericht entscheiden. Dabei hatte die Antragstellerin einzelne Mahnbescheidsanträge gegen zwei Darlehensnehmer (als Gesamtschuldner) gestellt und für den Fall des Widerspruchs jeweils die Abgabe an das Landgericht am (Wohn-)Sitz des jeweiligen Darlehensnehmers beantragt, obwohl erkennbar ein besonderer gemeinschaftlicher Gerichtsstand bestand. Für das BayObLG München stellte sich die Frage, ob in einem solchen Fall nach Wahlrechtsausübung gemäß § 35 ZPO bei Stellung des Mahnbescheidsantrags eine Zuständigkeitsbestimmung nach § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO noch möglich ist.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Die Antragstellerin verlangte von den beiden gesamtschuldnerisch haftenden Antragsgegnern – zunächst im Rahmen von zwei Mahnverfahren – die Rückzahlung von zwei verzinslichen Darlehen über insgesamt 100.000 Euro, die nach Kündigung der Darlehensverträge durch die Antragstellerin in voller Höhe zuzüglich anteiligen Zinsen zur Zahlung offen waren. In dem jeweiligen Mahnbescheidsantrag hatte die Antragstellerin für die Ansprüche gegen den jeweiligen Darlehensschuldner als Prozessgericht für den Fall des Widerspruchs das Landgericht am (Wohn-)Sitz des jeweiligen Darlehensschuldners angegeben. Beide Darlehensschuldner erhoben Widerspruch gegen den jeweiligen Mahnbescheid, infolgedessen das Verfahren gegen den Antragsgegner zu 1) an das von der Antragstellerin als Prozessgericht angegebene LG Ingolstadt abgegeben wurde. Die Abgabe des Verfahrens gegen die Antragsgegnerin zu 2), das an das LG Osnabrück als von der Antragstellerin angegebenes Prozessgericht hätte erfolgen sollen, stand aufgrund des fehlenden Antrags noch aus.
In ihrer beim LG Ingolstadt eingereichten Anspruchsbegründung gegen den Antragsgegner zu 1) kündigte die Antragstellerin die Stellung eines Antrages auf Zuständigkeitsbestimmung gemäß § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO an. Hilfsweise beantragte sie die Verweisung des Rechtsstreits an das LG München I als Gericht des Erfüllungsortes mit der Begründung, dass zum Zeitpunkt der Kreditgewährung und Abschluss der Darlehensverträge der Antragsgegner zu 1) in Sauerlach bei München wohnhaft gewesen sei, während sich der Sitz der Antragsgegnerin zu 2) in München befunden habe.
Der Antragsgegner zu 1) rügte die örtliche Unzuständigkeit des LG Ingolstadt unter Hinweis darauf, dass er im Jahr 2019 nach Italien verzogen sei, und beantragte Klageabweisung, auch mangels Begründetheit der Klage.
Die Antragstellerin stellte anschließend Antrag auf Zuständigkeitsbestimmung nach § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO beim BayObLG München und beantragte die Bestimmung des LG München I, hilfsweise des LG Ingolstadt, äußerst hilfsweise des LG Osnabrück als zuständiges Gericht. Den Vortrag des Antragsgegners zu 1) zum Wegzug nach Italien bestritt die Antragstellerin als unsubstantiiert im Hinblick auf die erfolgte Zustellung des Mahnbescheides in Ingolstadt.
Beide Antragsgegner beantragten die Zurückweisung des Antrags auf Zuständigkeitsbestimmung der Antragstellerin. Diesen begründeten sie u.a. damit, dass die Antragstellerin von Anfang an die Möglichkeit gehabt habe, das LG München I als Prozessgericht anzugeben, weil dort aufgrund des jeweiligen (Wohn-)Sitzes der Antragsgegner zum Zeitpunkt der Darlehensgewährung ein gemeinschaftlicher besonderer Gerichtsstand gegeben war. Nach bindender Wahlrechtsausübung bestehe diese Möglichkeit jedoch nicht mehr.
Das BayObLG München hat den Antrag auf Zuständigkeitsbestimmung nach § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO als unbegründet zurückgewiesen.
Die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte folgt auch im Falle der Verlegung des Wohnsitzes des Antragsgegners zu 1) nach Italien nach Abschluss des Darlehensvertrages aus Art. 7 Nr. 1 Brüssel Ia-VO, da sich der Erfüllungsort für die klageweise geltend gemachten Darlehensrückzahlungsansprüche gegen den Antragsgegner zu 1) im Gerichtsbezirk des LG München I befindet. Die Zuständigkeit des BayObLG München ergibt sich aus § 36 Abs. 2 ZPO i.V.m. § 9 EGZPO.
Der Antrag auf Zuständigkeitsbestimmung ist jedoch unbegründet, weil die Voraussetzungen für eine Zuständigkeitsbestimmung nach § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO nicht gegeben sind. Die Antragstellerin hat jeweils das LG Ingolstadt und das LG Osnabrück in ihren Mahnanträgen als Prozessgerichte im Falle des Widerspruchs angegeben, obwohl ein gemeinschaftlicher besonderer Gerichtsstand des Erfüllungsortes für eine Klage gegen die Antragsgegner beim LG München I bestand.
Zwar kann grundsätzlich bei vorangegangenem Mahnverfahren gegen mehrere Antragsgegner nach Abgabe der Verfahren an die im jeweiligen Mahnbescheidsantrag angegebenen Prozessgerichte das Antragsrecht gemäß § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO gleichzeitig mit der Antragsbegründung ausgeübt werden. Allerdings darf bei Einreichung des Mahnbescheidsantrags kein gemeinschaftlicher allgemeiner oder besonderer Gerichtsstand im Inland gegeben sein. Dies folgt aus § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO, wonach Voraussetzung für die Bestimmung eines einheitlich zuständigen Gerichts das Nichtvorhandensein eines gemeinschaftlichen besonderen Gerichtsstandes ist. Denn eine gerichtliche Zuständigkeitsbestimmung erscheint nicht erforderlich, wenn klägerseits bereits bei Klageeinreichung ein für alle Streitgenossen zuständiges Gericht angerufen werden kann. Aus diesem Grund kommt eine Bestimmung des zuständigen Gerichts nicht mehr in Betracht, wenn ein gemeinschaftlicher Gerichtsstand von Anfang an gegeben war und dieser durch Wahlrechtsausübung gemäß § 35 ZPO zugunsten eines anderen Gerichts verloren gegangen ist (vgl. BayObLG, Beschl. v. 10.02.2021 - 101 AR 161/20; OLG Karlsruhe, Beschl. v. 21.04.2016 - 209 AR 2/16). Im Falle eines vorgeschalteten Mahnverfahrens gegen mehrere Antragsgegner kann nach Abgabe der Mahnverfahren an die antragstellerseits angegebenen Streitgerichte eine gerichtliche Zuständigkeitsbestimmung zulässigerweise in der Anspruchsbegründung angekündigt und parallel beantragt werden, wenn der Verfahrensstand nicht entgegensteht und kein besonderer gemeinschaftlicher Gerichtsstand von vornherein gegeben war (vgl. BGH, Beschl. v. 17.09.2013 - X ARZ 423/13 - NJW-RR 2013, 1531; BayObLG, Beschl. v. 04.05.2020 - 1 AR 14/20). Wenn jedoch zum Zeitpunkt des Mahnbescheidsantrags ein gemeinsamer besonderer Gerichtsstand für alle Antragsgegner erkennbar bestand, der Antragsteller aber dennoch diesen im Mahnverfahren nicht beansprucht hat, muss er sich hieran festhalten lassen, mit der Folge, dass eine gerichtliche Zuständigkeitsbestimmung nicht mehr in Betracht kommt. Denn dem Antragsteller eines Mahnbescheides steht es frei, bei der Antragstellung ein von dem (Wohn-)Sitzgericht abweichendes Streitgericht, wie z.B. das Gericht des Erfüllungsorts als nach § 29 ZPO zuständiges Streitgericht für den Fall der Abgabe des Verfahrens nach Widerspruch anzugeben.
Vor diesem Hintergrund scheidet vorliegend eine gerichtliche Zuständigkeitsbestimmung aus. Die Antragstellerin muss sich vielmehr an der von ihr – jedenfalls im (Mahn-)Verfahren gegen die Antragsgegnerin zu 2) – mit Zustellung des Mahnbescheides bindend ausgeübten Wahl zugunsten des Sitzgerichts als Streitgericht festhalten lassen, das sie trotz des erkennbaren besonderen gemeinschaftlichen Gerichtsstands des Erfüllungsortes im Hinblick auf die geltend gemachten Darlehensrückzahlungsansprüche in ihrem Mahnbescheidsantrag angegeben hat. Hieran würde eine Verlegung des Wohnsitzes des Antragsgegners nach Italien im Jahr 2019 nichts ändern. Zwar wäre dann die Wahl des LG Ingolstadt nach § 35 ZPO durch die Antragstellerin fehlerhaft und deswegen nicht bindend, so dass die Abgabe des Verfahrens an das gemäß Art. 7 Nr. 1 Buchst. a) und b) Spiegelstrich 2 Brüssel Ia-VO zuständige LG München I als Gericht des Erfüllungsorts auf Antrag der Antragstellerin mangels rügeloser Einlassung des Antragsgegners zu 1) gemäß § 39 ZPO in Betracht käme. Allerdings würde es auch in diesem Fall bei der bindenden Wahlrechtsausübung durch die Antragstellerin im Verfahren gegen die Antragsgegnerin zu 2) bleiben, die einseitig nicht mehr abänderbar ist.


C.
Kontext der Entscheidung
Die Entscheidung des BayObLG orientiert sich am Gesetzestext und fügt sich in die bisherige Rechtsprechung zu der heute geltenden Fassung des § 690 Abs. 1 Nr. 5 ZPO ein.
Im Einklang mit der h.M. geht das BayObLG davon aus, dass im Falle des Vorhandenseins von mehreren Gerichtsständen von vornherein der Antragsteller eines Mahnbescheides nach § 35 ZPO die Wahl unter diesen hat. Sobald hiervon Gebrauch gemacht wird, ist die durch Angabe des zuständigen Gerichts im Mahnbescheidsantrag getroffene Wahl nach Zustellung des Mahnbescheids abschließend ausgeübt (vgl. OLG Zweibrücken, Beschl. v. 17.01.2012 - 2 AR 27/11; OLG Frankfurt, Beschl. v. 22.01.2020 - 13 SV 2/20). Im Falle der passiven Streitgenossenschaft und des Vorhandenseins eines besonderen gemeinschaftlichen Gerichtsstandes, führt die bindende Zuständigkeitswahl des (Wohn-)Sitzgerichts als Streitgericht im Mahnbescheidsantrag für den Fall des Widerspruchs dazu, dass der besondere gemeinschaftliche Gerichtsstand verloren geht und eine Zuständigkeitsbestimmung gemäß § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO nach Abgabe des Verfahrens an das im Mahnbescheidsantrag angegebene Streitgericht ausscheidet.
Soweit in vergleichbaren Fällen in der Vergangenheit z.B. der BGH (Beschl. v. 02.06.1978 - I ARZ 202/78 - NJW 1978, 1982) eine Bestimmung der Zuständigkeit gemäß § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO vorgenommen hat und das BayObLG (Beschl. v. 20.07.1978 - AllgReg 30/78 - BayObLGZ 1978, 220) und das OLG Düsseldorf (Beschl. v. 14.02.1978 - 19 Sa 2/78) eine Wahlrechtsausübung nach Abgabe des Verfahrens an das im Mahnbescheidsantrag bezeichnete Wohnsitzgericht des Antragsgegners für zulässig hielten, liegt dies daran, dass nach der damals geltenden Fassung des § 690 Abs. 1 Nr. 5 ZPO im Antrag auf Erlass eines Mahnbescheides als für das Streitverfahren zuständig zwingend das Gericht anzugeben war, bei dem der Antragsgegner seinen allgemeinen Gerichtsstand hat. Der Antragsteller konnte damit nicht verhindern, dass es zu einer vorübergehenden Trennung der Verfahren kommt, wenn er sich zur Geltendmachung seiner Rechte im Mahnverfahren entschloss und mehr als ein Antragsgegner Widerspruch einlegte. Der BGH hat dies als vom Gesetz nicht gewollte Benachteiligung angesehen und deshalb die nachträgliche Bestimmung eines gemeinsamen Gerichtsstands zugelassen (vgl. OLG Bamberg, Beschl. v. 01.02.2018 - 8 SA 31/17).
Eine Gerichtsstandsbestimmung nach § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO dürfte im Hinblick auf die Rechtsprechung des BGH (Beschl. v. 14.07.2020 - X ARZ 156/20) jedoch jedenfalls dann noch möglich sein, wenn der Antragsteller eines Mahnbescheides bei Angabe des Streitgerichts für den Fall des Widerspruchs keine Kenntnis von der Existenz möglicher weiterer Schuldner der Forderung hatte und diese auch nicht ohne wesentliche Schwierigkeiten ermitteln konnte.


D.
Auswirkungen für die Praxis
Die Entscheidung zeigt, dass Rechtsanwälte sich mit der Frage der örtlichen Zuständigkeit bei Stellung eines Mahnbescheidsantrags frühzeitig befassen müssen. Oft werden Mahnbescheidsanträge lediglich als schnelle Zwischenlösung gestellt, um beispielsweise der drohenden Verjährung kurz vor Schluss des Jahres zu entgehen, ohne sich mit dem Sachverhalt und den daraus resultierenden Rechtsfragen vertieft zu beschäftigen. Dies kann sich jedoch im Hinblick auf § 35 ZPO als tückisch erweisen, wenn routinemäßig als Streitgericht für den Fall des Widerspruchs das Gericht am allgemeinen Gerichtsstand des Antragsgegners angegeben wird. Denn bereits durch die Angaben im Mahnbescheidsantrag gemäß § 690 Abs. 1 Nr. 5 ZPO kann das zuständige Gericht bindend festgelegt werden. Eine schulbuchmäßige Prüfung der Zulässigkeit der Klage und insbesondere der internationalen und örtlichen Zuständigkeit darf vor Stellung des Mahnbescheides keinesfalls unterbleiben. Andernfalls setzen sich Rechtsanwälte überflüssigen Haftungsrisiken aus, die in der Regel schnell und leicht vermieden werden können.



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