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Anmerkung zu:LSG Stuttgart 5. Senat, Urteil vom 20.09.2023 - L 5 KR 371/23
Autor:Prof. Dr. Hermann Plagemann, RA, FA für Sozialrecht und FA für Medizinrecht
Erscheinungsdatum:30.11.2023
Quelle:juris Logo
Normen:§ 1 SGB 5, § 3 SGB 5, § 5 SGB 5, § 227 SGB 5, § 255 SGB 5, § 256 SGB 5, § 15 SGB 4, § 162 AO 1977, § 44 SGB 10, § 41a SGB 2, Art 103 GG, § 102 SGG, § 240 SGB 5, § 16 SGB 5, § 76 SGB 4, § 66 SGB 1, § 51 SGB 5, § 86a SGG, § 24 SGB 10, § 31 SGB 2
Fundstelle:jurisPR-MedizinR 11/2023 Anm. 1
Herausgeber:Möller und Partner - Kanzlei für Medizinrecht
Zitiervorschlag:Plagemann, jurisPR-MedizinR 11/2023 Anm. 1 Zitiervorschlag

Freiwillige Krankenversicherung: Beitragsberechnung



Leitsatz

Die in § 240 Abs. 4a Satz 4 SGB V normierte Dreijahresfrist zum Nachweis der tatsächlich im betreffenden Kalenderjahr erzielten Einnahmen bildet eine absolute Grenze. Aus der strikten Anwendung der Dreijahresfrist ergibt sich keine Verkürzung der Rechtsschutzmöglichkeiten.



Orientierungssatz zur Anmerkung

Wird das Arbeitseinkommen eines Selbstständigen, der freiwillig bei einer gesetzlichen Krankenkasse versichert ist, gemäß § 240 Abs. 4a SGB V durch Vorlage des Einkommensteuerbescheids nicht binnen einer Frist von drei Jahren nachgewiesen, sind die freiwilligen Beiträge endgültig auf Basis der Beitragsbemessungsgrenze festzusetzen.
Diese Bemessungsgrundlage kann durch nachträgliche Vorlage des Einkommensteuerbescheides im Rechtsbehelfsverfahren nicht korrigiert werden.



A.
Problemstellung
Wesentliches Merkmal der Sozialversicherung ist, dass die Versicherten entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit mit Beiträgen belastet werden, auch wenn sie im Krankheitsfall 100% der Sachleistungen erhalten. Dieses Prinzip des sozialen Ausgleichs wird in § 1 SGB V mit dem Wort „Solidargemeinschaft“ gekennzeichnet (vgl. dazu nur Becker in: Sozialrechtshandbuch, 7. Aufl. 2022, § 1 Rn. 15 f., 79 f.). § 3 SGB V beschreibt das mit den Worten „solidarische Finanzierung“. Dieses Prinzip gilt auch für Personen, die freiwillig gemäß § 240 SGB V versichert sind, einschließlich der Versicherten, die mangels anderweitigen Anspruchs gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V Pflichtmitglied der Kasse wurden (§ 227 SGB V).
Für die Krankenkassen ergeben sich daraus erhebliche Probleme, auf die der Gesetzgeber wiederholt reagiert hat, z.B. durch die Beteiligung von Zahlstellen am Verfahren des Beitragseinzugs (§§ 255, 256 SGB V). Für freiwillige Mitglieder schreibt § 240 SGB V vor, bei der Beitragsbemessung sei sicherzustellen, dass die Beitragsbelastung „die gesamte wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des freiwilligen Mitglieds“ zu berücksichtigen hat. Daraus ergeben sich komplizierte Fragen, welche Einkünfte nun denn tatsächlich heranzuziehen sind, etwa neben dem Einkommen Mieteinnahmen, Zinseinkünfte, Schadensersatzansprüche etc. Dazu verweist das Gesetz auf die Beitragsverfahrensgrundsätze Selbstzahler, die vom GKV-Spitzenverband veröffentlicht und immer wieder ergänzt wurden.
Dass Selbstständige aus dem von ihnen erzielten Arbeitseinkommen Beiträge zu zahlen haben, ist unbestritten. Sehr streitanfällig sind aber die Umstände, wie das Arbeitseinkommen nachzuweisen ist. Selbstständige können ihr Jahreseinkommen in der Regel erst im Folgejahr wirklich beziffern, wenn aus den erzielten Umsätzen alle Unkosten beglichen sind, einschließlich Umsatzsteuer etc. Auch dann aber muss dieser „Gewinn“ nicht dem für die Beitragsberechnung maßgeblichen „Arbeitseinkommen“ i.S.d. § 15 SGB IV entsprechen. Denkbar sind Abzüge für Werbungskosten etc. Maßgeblich ist nach dem Gesetz das Einkommensteuerrecht, weshalb § 240 Abs. 4a SGB V für die „endgültige“ Festsetzung der Beiträge auf die „Vorlage des jeweiligen Einkommensteuerbescheides“ abstellt. Zur Vorlage des Steuerbescheides gewährt das Gesetz dem Mitglied eine Frist von drei Jahren. Nach Ablauf der Frist wird der Beitrag endgültig festgesetzt, und zwar in Höhe der Beitragsbemessungsgrenze, falls sich aus dem Bescheid über die Einkommensteuer des betroffenen Jahres nicht ein anderes „Arbeitseinkommen“ ergibt. Was auf den ersten Blick einleuchtend und auch praktikabel erscheint, erweist sich in der Praxis als durchaus unklar: Warum muss es unbedingt der endgültige Einkommensteuerbescheid sein? Reicht eine Schätzung, reicht eine Steuererklärung oder eine Bescheinigung des Steuerberaters? Ist das Mitglied im Rechtsstreit Jahre später mit dem Einwand ausgeschlossen, die tatsächlichen Einkünfte seien niedriger gewesen?
Das LSG Stuttgart orientiert sich am Gesetzeswortlaut und leitet daraus eine Präklusion zulasten des Klägers ab. Diese Auffassung ist keineswegs unbestritten und ist im Rahmen einer Revision durch das BSG kritisch zu überprüfen.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Im Streit steht die Höhe der Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung für das Jahr 2018. Der 1958 geborene Kläger ist als Rechtsanwalt hauptberuflich selbstständig tätig und hat der beklagten Krankenkasse Unterlagen aus den Jahren 2015 und 2016 über seine Einkünfte vorgelegt, woraufhin die Kasse die Beiträge vorläufig berechnete mit monatlich rund 400 Euro bzw. ab Oktober 2018 600 Euro. Im Jahre 2020 forderte die Beklagte den Kläger auf, einen Fragebogen zu seinen Einkommensverhältnissen auszufüllen und die Einkommensteuerbescheide für die Jahre 2017 und 2018 vorzulegen. Der Kläger übersandte den Bescheid aus dem Jahre 2017, woraus sich Einkünfte aus freiberuflicher Tätigkeit i.H.v. 25.807 Euro ergaben. Die Beklagte erinnerte mehrfach daran, den Einkommensteuerbescheid für 2018 vorzulegen. Dieser werde für die endgültige Festsetzung der Beiträge benötigt. Im Dezember 2021 erinnerte die Beklagte erneut an die Vorlage des Einkommensteuerbescheides 2018 und führte aus: „Wir brauchen Ihre vollständigen Unterlagen bis zum 31.12.2021. Ansonsten müssen wir Ihre monatlichen Beiträge anhand der geltenden Beitragsbemessungsgrenze 2018 i.H.v. 4.425 Euro endgültig festsetzen. Ist Ihr Einkommen tatsächlich geringer, können wir das nicht rückwirkend berücksichtigen.“ Offensichtlich geschah daraufhin nichts.
Ende Januar 2022 setzte die Beklagte die Beiträge für den Zeitraum 01.01.2018 bis 31.12.2018 endgültig fest, und zwar i.H.v. 772,17 Euro monatlich – auf Basis der im Jahre 2018 geltenden Beitragsbemessungsgrenze. Gegen diesen Bescheid richtete sich der Widerspruch des Klägers, mit dem er den Einkommensteuerbescheid für das Jahr 2018 vorlegte, aus dem sich Einkünfte aus freiberuflicher Tätigkeit i.H.v. rund 28.000 Euro ergaben, und zwar aufgrund einer Schätzung der Besteuerungsunterlagen gemäß § 162 AO. Der Kläger teilte mit, dass dagegen ein Rechtsbehelf anhängig sei. Er übersandte im Mai 2022 Umsatzsteueranmeldungen für das Jahr 2018, aus denen sich ein betrieblicher Umsatz von 45.119 Euro ergab, von dem mindestens 35% Betriebsausgaben abzusetzen seien. Die Kasse wies den Widerspruch gegen den Beitragsbescheid und einen zweiten Bescheid über Säumniszuschläge zurück. Dagegen richtete sich die Klage des Klägers zum SG Heilbronn, mit dem der Kläger unter anderem rügte, dass die Schreiben der Kasse nicht ausreichend auf einen Rechtsverlust hinweisen. Schließlich habe er im Widerspruch einen Einkommensteuerbescheid vorgelegt, aus dem sich durchschnittliche monatliche Einkünfte von 2.333 Euro ergeben.
Den zugleich gestellten Antrag des Klägers, im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen, hatten das SG Heilbronn mit Beschluss vom 16.08.2022 (S 16 KR 1900/22 ER) und das LSG Stuttgart mit Beschluss vom 25.10.2022 (L 11 KR 2722/22 ER-B) zurückgewiesen. Unter Bezug auf den zuletzt genannten Beschluss wies das SG Heilbronn die Klage durch Gerichtsbescheid ab.
Die drei Jahre gemäß § 240 Abs. 4a Satz 4 SGB V bildeten die „absolute Grenze“. Eine Regelung zum nachträglichen Nachweis oder eine Änderung der endgültigen Beitragsfestsetzung wegen Kenntnis der Kasse vom Unterschreiten der Beitragsbemessungsgrenze sehe § 240 Abs. 4a Satz 4 SGB V nicht vor. Der Kläger sei auch über die Frist und die Folgen eines Verstreichenlassens im November und Dezember 2021 ausreichend informiert gewesen.
Dagegen richtete sich die Berufung des Klägers. Auch im Hinblick darauf, dass endgültige Beitragsfestsetzungen sogar gemäß § 44 SGB X korrigierbar seien, müsse eine solche Änderung der Beitragsfestsetzung aufgrund neuer Erkenntnisse erst recht vor deren Bestandskraft möglich sein. Der Übergang von der vorläufigen zur endgültigen Beitragsfestsetzung bewirke keine Verkürzung des Rechtsschutzes.
Das LSG Stuttgart hat nach einem Erörterungstermin, in dem der Kläger bestätigte, dass der Einkommensteuerbescheid für 2018 (mit dem die Einkünfte geschätzt worden waren) bestandskräftig geworden ist, die Berufung als unbegründet zurückgewiesen.
Nach § 240 Abs. 4a Satz 1 SGB V werden die nach dem Arbeitseinkommen zu bemessenden Beiträge auf der Grundlage des zuletzt erlassenen Einkommensteuerbescheides vorläufig festgesetzt. Danach werden die Beiträge für das jeweilige Kalenderjahr nach Vorlage des Einkommensteuerbescheides endgültig festgesetzt. § 240 Abs. 4a Satz 4 SGB V bestimme für den Fall, dass das Mitglied seine tatsächlichen Einnahmen auf Verlangen der Kasse nicht innerhalb von drei Jahren nach Ablauf des jeweiligen Kalenderjahres nachweise, dass für die endgültige Beitragsfestsetzung als beitragspflichtige Einnahme für den Kalendertag der 30. Teil der monatlichen Beitragsbemessungsgrenze gelte, damit also die Höchstbeiträge festzusetzen seien. Diese Vorschrift komme vorliegend zum Tragen. Die Drei-Jahres-Frist bilde insoweit eine „absolute Grenze“. Eine Regelung zum nachträglichen Nachweis oder auch eine Änderung der endgültigen Beitragsfestsetzung wegen Kenntnis der Kasse vom Unterschreiten der Beitragsbemessungsgrenze sehe Absatz 4a nicht vor.
§ 240 Abs. 4a Satz 4 SGB V setze ein Verlangen der Krankenkasse, was die Vorlage des Einkommensteuerbescheides anbelange, voraus. Dieses Erfordernis habe Warnfunktion, d.h. der Versicherte soll erkennen können, dass die Festsetzung des Höchstbeitrags drohe.
Der Kläger sei hier ausreichend gewarnt worden. Er wurde unter anderem im Schreiben vom 09.12.2021 über die Frist und auch über die Folgen eines Fristversäumnisses informiert.
Ob eine Ausnahme von der Nachweispflicht in Fällen eines unzumutbaren oder unmöglichen Nachweises anzuerkennen sei, könne vorliegend offenbleiben. Denn dem Kläger sei die Vorlage des Einkommensteuerbescheides vom 21.12.2020 bis spätestens 31.12.2021 weder unmöglich noch unzumutbar gewesen. Der Kläger sei ohne weiteres in der Lage gewesen, diesen Bescheid der Beklagten vor Fristablauf einzureichen, zumal der Einkommensteuerbescheid nach seinem eigenen Vortrag im Verwaltungsverfahren die Einkommenssituation im Wesentlichen sogar korrekt widergespiegelt habe. Dabei sei es ohne Bedeutung, dass der Einkommensteuerbescheid für 2018 ein Schätzungsbescheid sei und sich damals noch im Rechtsbehelfsverfahren befunden habe. § 240 Abs. 4a SGB V fordere für die endgültige Festsetzung des Beitrags die Vorlage des Einkommensteuerbescheides und differenziere nicht danach, auf welcher Grundlage dieser erstellt worden sei. Werde ein nicht bestandskräftiger Einkommensteuerbescheid vorgelegt, können etwaige Fehler, die später von der Finanzverwaltung oder den Finanzgerichten korrigiert werden, grundsätzlich über § 44 SGB X bei der endgültigen Beitragsfestsetzung nachträglich berücksichtigt werden. Voraussetzung sei aber, dass der (ggf. nicht bestandskräftige) Einkommensteuerbescheid fristgemäß bei der Krankenkasse eingereicht wurde. Das war vorliegend nicht der Fall.


C.
Kontext der Entscheidung
Das LSG Stuttgart hat die Revision zu Recht zugelassen. Das Landessozialgericht entnimmt § 240 Abs. 4a Satz 4 SGB V nach Ablauf der Drei-Jahres-Frist eine Rechtsfolge, wie sie in einem Teil der Literatur vertreten wird. Bislang konzentrierten sich die Verfahren auf die Frage, ob die Kasse ausreichend eindeutig dem Mitglied vor Augen geführt hat, dass die Versäumung der Drei-Jahres-Frist die endgültige Festsetzung der Beiträge zur Folge hat (zu „Warnfunktion“ vgl. z.B. LSG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 24.05.2023 - L 1 KR 145/23 B ER: „erheblicher Beratungsbedarf“; SG Konstanz v. 24.04.2023 - S 7 KR 1569/22 zum „verlangen“).
In anderen Entscheidungen heißt es, dass § 240 Abs. 4a Satz 4 SGB V keinen zwingenden Ausschluss der Zugrundelegung der tatsächlichen Einnahmen nach Ablauf der Drei-Jahres-Frist enthält. Geregelt sei nur, dass nach einem entsprechenden Nachweisverlangen und Fristablauf die Beiträge für das betreffende Jahr endgültig nach der Beitragsbemessungsgrenze festzusetzen sind. Ein Ausschluss der Zugrundelegung der tatsächlichen Einnahmen trotz Nachweises im neuen Jahr noch vor Erlass des Beitragsbescheides oder spätestens im Widerspruchsverfahren hätte ausdrücklich geregelt werden müssen, da die Regelung eine ganz erhebliche Sanktionierung der Säumnis befiehlt. Die Norm nimmt dabei nach dem Wortlaut keine Rücksicht darauf, ob eine Obliegenheitsverletzung vorliegt, noch nicht einmal, ob der Nachweis überhaupt objektiv möglich ist. Unmögliches dürfe aber nicht verlangt werden, so ausdrücklich LSG Berlin-Brandenburg mit Beschluss vom 24.05.2023 (L 1 KR 145/23 B ER). Das SG Stralsund hat mit Urteil vom 21.04.2023 (S 3 KR 79/22) dezidiert festgehalten, dass sich aus dem Gesetzeswortlaut (einschließlich Gesetzesbegründung) eine Präklusionswirkung, wie sie das Landessozialgericht dem Gesetz entnommen hat, nicht ableiten lässt. Die Beitragsfestsetzung sei nicht endgültig abgeschlossen, da gegen die Beitragsbescheide fristgerecht Rechtsmittel eingelegt wurden. Maßgeblich für die Rechtmäßigkeit der Verwaltungsentscheidung ist die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung im Widerspruchsverfahren. Im Widerspruchsverfahren lag aber der endgültige Bescheid vor. Dem hat das SG München in seinem Beschluss vom 10.10.2023 (S 35 KR 809/23) ausdrücklich zugestimmt. So hat auch das BSG zu § 41a SGB II entscheiden: Unterlagen, die im Widerspruchsverfahren vorgelegt werden, sind zu berücksichtigen, unabhängig davon, dass zuvor trotz wirksamer Aufforderung zur Mitwirkung der Anspruchsteller die Frist zur Vorlage versäumt hat (BSG, Urt. v. 12.09.2018 - B 4 AS 39/17 R, zust. Mushoff, NZS 2019, 275, vgl. auch Kallert in: BeckOGK SGB II, § 41a SGB II Rn. 184).
Für diese Sichtweise spricht auch die Rechtsprechung, die sich mit der Präklusion in anderen Konstellationen auseinandersetzt. Präklusionsvorschriften schränken die Möglichkeit der Wahrnehmung des Anspruchs auf rechtliches Gehör im Prozess ein, weshalb Auslegung und Anwendung von prozessualen Präklusionsvorschriften verfassungsrechtlich an Art. 103 GG zu messen sind (dazu u.a. BVerwG, Beschl. v. 05.07.2023 - 9 B 7/23 - NVwZ 2023, 1664 m. Anm. Marquard). Die Rechtsprechung wendet deshalb die Klagerücknahmefiktion gemäß § 102 Abs. 2 SGG nur unter ganz strengen Voraussetzungen ausnahmsweise an (dazu BSG, Urt. v. 04.04.2017 - B 4 AS 2/16 R; BSG, Beschl. v. 14.05.2020 - B 14 AS 73/19 B). § 240 Abs. 4a Satz 4 SGB V regelt die Beitragsfestsetzung, nicht aber die Möglichkeiten des Rechtsschutzes. Auch die Rechtsprechung zur Vergütung von Leistungen des Krankenhauses prüft streng, ob und inwieweit vertragliche Vereinbarungen – auch wenn es sich um „Normverträge“ handelt – ausreichen, um den Einwand rechtmäßigen Verhaltens im Widerspruchs- bzw. Klageverfahren auszuschließen (dazu BSG, Beschl. v. 22.08.2023 - B 1 KR 22/23 B).


D.
Auswirkungen für die Praxis
1. Kassen müssen im Interesse der Beitragszahler gemäß § 76 SGB IV und im Interesse der Betroffenen sofort die Vollstreckung einleiten, auch um zu verhindern, dass die Leistungsansprüche des Versicherten gemäß § 16 Abs. 2 SGB V zum Ruhen kommen. Dem Versicherten bleibt danach nur noch die Möglichkeit, Antrag auf Ratenzahlung oder sogar Erlass gemäß § 76 Abs. 2 SGB IV zu stellen. Erlassen werden aber Forderungen nur, wenn der Antragsteller nachweist, auf absehbare Dauer an der Beitragszahlung gehindert zu sein. Das wird einem Selbstständigen kaum gelingen, will er nicht Privatinsolvenz anmelden.
2. Ist das Schreiben, mit dem das „Verlangen“ nach Vorlage des Einkommensteuerbescheides angemahnt wird, als Verwaltungsakt zu kennzeichnen? Das wird zur Mitwirkungsvorschrift des § 66 SGB I überwiegend verneint (so etwa Spellbrink in: BeckOGK, § 66 SGB I Rn. 44 unter Bezug auf LSG Halle, Beschl. v. 05.06.2015 - L 4 AS 242/15 B; anders Joussen in: KKB, 7. Aufl. 2021, Rn. 10). Die Aufforderung zum Antrag auf Rentenleistung gemäß § 51 SGB V wird als Verwaltungsakt angesehen, schon wegen der Fristsetzung. Vorliegend droht dem Versicherten sogar ein Rechtsverlust, so dass alles dafürspricht, das „Verlangen“ als Verwaltungsakt anzusehen mit der Folge, dass ein Widerspruch dagegen aufschiebende Wirkung nach § 86a SGG hätte.
Reicht das Schreiben, mit dem der endgültige Einkommensteuerbescheid angefordert wird, aus, um die nach § 24 SGB X erforderliche Anhörung zu gewährleisten? Wohl kaum.
3. Der vom Landessozialgericht als rechtens bestätigte Bescheid betrifft das Jahr 2019. Wie muss der Vortrag des Klägers aussehen, um für die Folgejahre eine Einstufung nach den tatsächlichen Verhältnissen sicherzustellen?
4. Richtet sich der Anspruch auf Krankengeld nun nach den tatsächlich erzielten Einkünften oder nach der BBG? Das könnte nach dem Urteil des LSG Chemnitz vom 22.03.2023 (L 1 KR 420/20) durchaus zweifelhaft sein. Hier ging es allerdings um die Berücksichtigung von Einmalzahlungen.
5. Falls der Kläger außerstande ist, die Beitragsschuld zu begleichen, kann er entweder nach dem SGB II oder dem SGB XII Übernahme dieser Schulden durch das Jobcenter bzw. den Sozialhilfeträger erbitten. Unterstellt, ihm gelingt der Nachweis, entsprechend bedürftig zu sein, stellt sich für beide Sozialleistungsträger die Frage, ob sie diesen Anspruch auf Übernahme der rückständigen Beiträge dennoch ablehnen mit dem Argument, der Anspruchsteller selbst habe die Bedürftigkeit verursacht, nämlich dadurch, dass er den Einkommensteuerbescheid zu spät vorgelegt hat (vgl. dazu die §§ 31 ff. SGB II oder auch § 32 SGB XII, wonach nur „angemessene“ Beiträge übernommen werden).
6. Und zuletzt: Der Kläger kann die seitens der Kasse festgesetzten Beiträge bei seiner Steuer als Sonderausgaben absetzen. Ob ihm dies bei den aktenkundigen tatsächlichen Einkünften irgendetwas nützt, ist mehr als zweifelhaft. Denkbar wäre sogar, dass das Finanzamt den Sonderabgabenabzug der Höhe nach begrenzt mit der Begründung, der überhöhte Beitrag zur Kranken- und Pflegeversicherung beruhe nicht auf dem Gesetz, sondern nur auf der Nachlässigkeit des Versicherten.
Auch die vorstehend skizzierten Auswirkungen der Beitragsanforderung aus fiktiven Einkünften erfordern umso mehr eine kritische, an dem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz orientierte Prüfung der vom Landessozialgericht verfügten Präklusion.



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