juris PraxisReporte

Autor:Prof. Dr. Dr. h.c. Michael Kubiciel
Erscheinungsdatum:27.11.2023
Quelle:juris Logo
Normen:§ 331 StGB, Art 38 GG, § 108e StGB, 12016E082, 12016E083, 12016P008, 12016P049, EURL 2017/1371
Fundstelle:jurisPR-StrafR 21/2023 Anm. 1
Herausgeber:Dr. Mayeul Hiéramente, RA und FA für Strafrecht
Zitiervorschlag:Kubiciel, jurisPR-StrafR 21/2023 Anm. 1 Zitiervorschlag

Richtlinien-Entwurf zur Korruptionsbekämpfung: Eine Problemübersicht

I. Hintergrund

Der 13.11.2023 war der Tag eines äußerst seltenen Ereignisses. Der Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages nahm sich zwei Stunden Zeit, um mit Sachverständigen (m/w) den Vorschlag des Europäischen Parlaments für eine Richtlinie zur Bekämpfung der Korruption zu diskutieren, die den Rahmenbeschlusses 2003/568/JI des Rates sowie das EU-Übereinkommen über die Bekämpfung der Bestechung ablösen und – vor allen Dingen – deutlich erweitern soll. Dass es zu der Anhörung kam, verdankt sich einer Besonderheit: Der Richtlinien-Vorschlag könnte dazu führen, dass die bisher im StGB durchgeführte Differenzierung zwischen Amtsträgern und Mandatsträgern aufgegeben werden muss, da der Vorschlag eine Gleichstellung beider Personengruppen verlangt. Zwar wären auch fortan legalistische Unterschiede bei der Lokalisierung der Korruptionsregelungen möglich, also eine Norm im Abschnitt über Straftaten gegen Verfassungsorgane sowie Wahlen und Abstimmungen (§ 108e StGB) einerseits und die §§ 331 ff. StGB bei den Straftaten im Amt. Ausgeschlossen wären aber Unterschiede bei den Strafvoraussetzungen. Vor diesem Hintergrund hatte der Bundesjustizminister den Ausschuss angefragt, wie er in den Ratsverhandlungen vorgehen und Deutschland positionieren soll. Die Anfrage fällt in eine Zeit fraktionsinterner und fraktionsübergreifender Beratungen zur Reform des § 108e StGB im Nachgang zu der sog. Masken-Entscheidung des BGH, in der dieser den Anwendungsbereich des Korruptionsverbots auf innerparlamentarische Vorgänge beschränkt hat. Sollte die EU nunmehr eine Gleichbehandlung von Amts- und Mandatsträgern verlangen, hätte dies offenkundig Einfluss auf den nationalen Reformprozess. Auch zu diesem Punkt hat der Verfasser im Rechtsausschuss Stellung genommen, sich aber auch die Gelegenheit nicht nehmen lassen, eine Übersicht über die Vielzahl von teils sehr grundsätzlichen Problemen zu geben, die die Richtlinie birgt. So sollte in der EU keine Kriminalpolitik betrieben werden.

II. Ziel der Richtlinie

Der Vorschlag zu einer Richtlinie verfolgt mit der Korruptionsbekämpfung ein wichtiges Ziel, da Korruption für die Institutionen der Union und ihrer Mitgliedsstaaten eine latente Gefahr darstellt. Allerdings unterscheiden sich Ausmaß und Erscheinungsformen in den Institutionen und Mitgliedsstaaten. Nicht alle Institutionen in jedem Mitgliedsstaat werden von denselben Gefahren bedroht, vielmehr gibt es durchaus institutionen- und landesspezifische Unterschiede.1 Schon dies nährt Zweifel daran, dass sich den landes- bzw. systemspezifischen Erscheinungsformen der Korruption mit der Vereinheitlichung der Rechtsvorgaben besser begegnen lässt als mit landesspezifischen Empfehlungen, etwa in Bezug auf die Rechtsdurchsetzung.2 Richtig ist aber auch, dass nicht wenige Staaten mit der Umsetzung solcher – nicht verpflichtenden – Empfehlungen zögern, ja diese teils über Jahre hinweg ignorieren. Es liegt daher in der institutionellen Logik der EU, unverbindliche Ratschläge etwa des Europarates aufzugreifen und diese rechtlich zu erhärten,3 was freilich eine entsprechende Kompetenz sowie die Beachtung des unionsrechtlichen Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsprinzips sowie der Grundrechte voraussetzt (vgl. dazu unten III. 2 und 3). Wahr ist auch, dass der unionsrechtliche Anti-Korruptionsrechtsacquis vergleichsweise alt ist. Zudem sind in den letzten Jahren neue Formen strategischer Korruption zu beobachten, mit denen auswärtige Staaten gezielt versuchen, Einfluss auf politische Prozesse der Union und ihrer Mitgliedsstaaten zu nehmen oder gar die Stabilität der Institutionen zu unterminieren.4 Es ist daher zu begrüßen, dass auf der Ebene der EU nachgedacht wird, wie ihre – teils mehrere Jahrzehnte alten – Rechtsinstrumente den sich wandelnden Korruptionsphänomenen angepasst und bestehende Defizite behoben werden können.

Der Zweck der Richtlinie besteht laut EG 1 in der „strafrechtlichen Bekämpfung der Korruption, um (sic! gemeint: indem) eine bessere grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen den zuständigen Behörden zu ermöglichen.“ Dies soll u.a. durch eine weitere Angleichung der (strafrechtlichen) Rechtsvorschriften (EG 8), aber auch durch Eingriffe in das Institutionengefüge der Mitgliedsstaaten geschehen. Nicht immer stehen die vorgeschlagenen Maßnahmen in einem erkennbaren Zusammenhang zum Zweck.

III. Überblick über die Problem- und Schwachstellen des Richtlinien-Vorschlags

Der Richtlinien-Vorschlag wirft eine Vielzahl von rechtspolitischen, unions- und verfassungsrechtlichen Fragen auf, die hier nicht alle gewürdigt werden können. Im Folgenden werden daher zunächst einige Schlaglichter auf paradigmatische Probleme geworfen, bevor auf zwei Punkte näher eingegangen wird. Schon diese Problemübersicht sollte zeigen, dass sich der Richtlinien-Vorschlag in seiner konkreten Ausgestaltung als teilweise dringend überarbeitungs- und auch reduktionsbedürftig erweist.

1. Konzeption: Härtung unverbindlicher Standards der VN durch die EU?

Strafrechtspolitisch und konzeptionell basiert der Vorschlag vor allem auf der Idee, jene strafrechtsrelevanten Artikel der VN Konvention gegen Korruption unionsrechtsverbindlich zu machen, deren Umsetzung die VN ausdrücklich in das Ermessen der Vertragsstaaten gestellt hat und die daher in einigen Mitgliedsstaaten der EU nicht (vollständig) umgesetzt worden sind.5 Die in der Richtlinien-Begründung erwähnten „internationalen Verpflichtungen“ (S. 16) bestehen folglich vielfach nicht. Auch der Hinweis in EG 7, man wolle der Politischen Erklärung der Sondertagung der VN Generalversammlung zur Korruption 2021 Rechnung tragen, verfängt nicht, da die Erklärung explizit auf den Ermessensspielraum der Staaten hinweist, die Unverbindlichkeit also anerkennt und die Entscheidung in die Hände der einzelnen Staaten legt.6 Die EU kann als Vertragspartei der VN Konvention zwar Vorschriften zum Schutz ihrer eigenen Institutionen implementieren bzw. durch die Mitgliedsstaaten implementieren lassen; dass sie aber das rechtspolitische Ermessen der Mitgliedsstaaten im Hinblick auf den Schutz von deren Institutionen durch eine eigene Entscheidung ersetzt, versteht sich nicht von selbst. Jedenfalls ist daher besonderer Wert auf eine angemessene Begründung der Kompetenzausübung und eine sorgfältige Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsprüfung zu legen.

2. Kompetenzfragen

a) In wichtigen Teilen bleibt der Richtlinien-Vorschlag eine Antwort auf die Kompetenzgrundlage jedoch gänzlich schuldig. Dies gilt insbesondere für die teils sehr weitreichenden Vorgaben zur Korruptionsprävention und zur Schaffung neuer bürokratischer Institutionen (Präventionsbehörden) bzw. Änderung nationaler Institutionen (Unabhängigkeit von Staatsanwaltschaften). Der Richtlinien-Vorschlag erwähnt lediglich die Art. 82, 83 AEUV, die jedoch nur – begrenzte – Kompetenzen zur Harmonisierung spezieller Bereiche des materiellen Strafrechts bzw. des beweismitteltransferbezogenen Strafprozessrechts gewähren. Worauf sich die weitreichenden Vorgaben an die Mitgliedsstaaten etwa zur Offenlegung sämtlicher Vermögen sämtlicher öffentlicher Bediensteter stützen, bleibt folglich offen.

b) Grundlage für die strafrechtliche Harmonisierung ist Art. 83 Abs. 1 UAbs. 1 AEUV, nicht die Annexkompetenz des Art. 83 Abs. 2 AEUV.7 Art. 83 Abs. 1 erwähnt Unterabsatz 2 „Korruption“ ausdrücklich als Deliktsfeld, auf dem wegen des grenzüberschreitenden Charakters Harmonisierungsmaßnahmen zulässig sind. Dessen ungeachtet lässt sich bei einigen Vorschriften der Richtlinie bestreiten, dass sie einen Korruptionstatbestand – selbst im weitesten Sinne – beschreiben. Dies gilt namentlich für die sehr weite Fassung der „Veruntreuung“ nach Art. 9 RiL-Vorschlag zulasten privater Unternehmen durch deren leitenden Mitarbeiter, die auch die zweckwidrige Nutzung eines Arbeitsmittels (z.B. Diensthandy oder Dienstwagen) erfassen. Ein solches Verhalten stellt zwar eine Verletzung des Arbeitsvertrages dar; es lässt sich aber bereits bestreiten, dass dies eine strafwürdige Handlung darstellt. Um Korruptionsunrecht handelt es sich jedenfalls nicht8 – schon gar nicht um ein solches, das auf Grundlage einer unionsrechtlichen Richtlinie grenzüberschreitend zu verfolgen wäre.

In noch deutlich gesteigertem Maße gilt dies mit Blick auf die sehr weite Fassung des Amtsmissbrauchs nach Art. 11 RiL-Vorschlag, der gem. Absatz 2 auch für Personen in Privatunternehmen gilt, und dem zufolge jede arbeits- oder zivilrechtswidrige Handlung zu bestrafen ist, wenn dadurch ein „ungerechtfertigter Vorteil“ – gleich welcher Art – erstrebt wird. Dadurch wird vertragswidriges Verhalten im privaten Arbeitsleben in einem sehr weiten Ausmaß kriminalisiert, ohne dass ein inhaltlicher Bezug zur Korruption gegeben wäre.9

c) Auch dort, wo ein inhaltlicher Bezug zur Korruption besteht, bleiben Zweifel an der Kompetenzgrundlage für Harmonisierungsmaßnahmen bestehen, die sich insbes. aus dem Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsprinzip speisen. Dabei handelt es sich nicht um ein theoretisches Problem, sondern auch um ein verfassungsrechtliches, hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Lissabon-Entscheidung doch eine zurückhaltende Anwendung der Kompetenzregelungen angemahnt: Insbesondere müsse durch eine restriktive Ausgestaltung der tatbestandlichen Verbote dafür Sorge getragen werden, dass tatsächlich nur „besonders schwere Kriminalität“ typisiert erfasst werde;10 weiter sei „darauf zu achten, dass nur die grenzüberschreitende Dimension eines konkreten Straftatbestands von den europäischen Rahmenvorschriften angesprochen wird.“11 Mehrere Regelungen im Richtlinien-Vorschlag berücksichtigen dies nicht.

So wird die völlig konturlose Vorschrift zum Amtsmissbrauch in Art. 11 RiL-Vorschlag zu Recht als „unverhältnismäßiges Catch-all-Delikt“12 bezeichnet, da sie jedes rechtswidrige Verhalten in Vorteilsabsicht unter Kriminalstrafe stellt, also z.B. auch die Ausleuchtung eines Schulsportplatzes nach Schulende zugunsten eines privaten Fußballspiels.
Auch die weitreichenden Regelungen zur Versuchsstrafbarkeit (bei ohnehin sehr weit gefassten Strafvorschriften) sind kaum für eine grenzüberschreitende Korruptionsbekämpfung notwendig und mit Blick auf die Tiefe des Eingriffs in die nationalen Strafrechtsordnungen auch nicht angemessen.
Besonders starke Zweifel betreffen die Harmonisierungsvorgaben in Bezug auf Sanktionsarten, Sanktionsmindesthöhen und Verjährungen. Hier ist der Kern nationaler Strafrechtssouveränität betroffen, da sich in Sanktionen, Strafrahmen und Verjährungsregelungen nicht nur die Bewertung eines einzelnen Delikts spiegelt, sondern diese gleichsam die Gesamtstatik des nationalen, historisch-kulturell geprägten Kriminaljustizsystems ausmachen.13 Folglich lässt sich nicht für einzelne Delikte das Strafrahmenniveau bzw. Verjährungsrecht ändern, ohne zwangsläufig die Gesamtstatik der jeweiligen Strafgesetzbücher ins Wanken zu bringen.

d) Mit Blick auf den Grundsatz der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit ist generell zu bemängeln, dass der Richtlinien-Vorschlag die Notwendigkeit zur Harmonisierung des Strafrechts allein mit Verweis auf Lücken im nationalen Recht begründet (vgl. S. 12 ff.). Inwieweit diese Lücken aber tatsächlich zu Korruptionsproblemen führen, bleibt ebenso offen, wie die Frage, ob andersartige nationale Regelungen diese Lücken funktional ersetzen. Letztlich wird die Handlungsermächtigung zur Harmonisierung des Rechts allein damit begründet, dass das Recht noch nicht vollständig harmonisiert ist – eine zirkuläre Argumentation! Dasselbe gilt für den Verweis darauf, dass Definitionen und Vorschriften im nationalen Recht teils voneinander abweichen (S. 14). Weil Rechtvereinheitlichung kein Selbstzweck ist,14 rechtfertigt Unterschiedlichkeit allein noch keine Harmonisierung.

Auch bei einzelnen Präventionsmaßnahmen lässt sich an der Verhältnismäßigkeit zweifeln. So stellt sich bei der von Art. 4 Abs. 1 RiL-Vorschlag verlangten Schaffung von auf Korruptionsprävention spezialisierten Stellen die Frage, wie diese Pflicht in einem föderal tief gestaffelten Staat wie der Bundesrepublik Deutschland so umgesetzt werden kann, dass innerstaatliche Kompetenzgrenzen gewahrt bleiben, ohne eine Vielzahl neuer bürokratischer Institutionen in Bund, Ländern, Gemeinden und Körperschaften schaffen zu müssen.15 Ist dann, so ließe sich weiter fragen, der bisherige Ansatz von institutioneninternen Compliance-, Rechts- und Revisionsabteilungen nicht deutlich zielführender und weniger bürokratisch aufwändig? Auch in Bezug auf die jeden öffentlichen Bediensteten treffende Pflicht zur Offenlegung seines Gesamtvermögens (Art. 4 Abs. 3 RiL-Vorschlag) drängt sich die Frage nach der Verhältnismäßigkeit auf, die zugleich eine grundrechtliche ist. Es scheint weder erforderlich noch mit Blick Art. 8 GRCh angemessen, über die Publizität von Besoldungstabellen und die strengen Regeln über Offenlegung und Genehmigung von Nebentätigkeiten und -einkünften hinaus, alle öffentlichen Bediensteten – vom Kindergärtner über die Lehrerin und den Richter bis zur Abgeordneten – zur Offenlegung des Gesamtvermögens zu zwingen. Solche Publizitätspflichten werden bislang in Organisationen wie GRECO nur in Bezug auf besonders hochrangige Entscheidungsträger, namentlich politisch exponierte Personen – Minister und Staatssekretäre – diskutiert.16

3. Grundrechte und Bestimmtheit

Die Vereinbarkeit mit den Grundrechten der Grundrechte-Charta der Europäischen Union wird im Richtlinien-Vorschlag durchgängig nur behauptet. Auch dort, wo Zweifel durchaus angebracht sind, fehlen eine nähere Prüfung bzw. Argumentation. Dies betrifft etwa die Pflicht zur Offenlegung des Vermögens aller öffentlicher Bediensteten zum Zweck der „Interaktion“ mit dem „privaten Sektor“ (vgl. dazu schon 2.), aber auch die Strafbarkeit der „Bereicherung“ nach Art. 13 RiL-Vorschlag, der zu einer Kriminalisierung der Selbstgeldwäsche führt und damit die Gefahr einer unverhältnismäßigen, weil schuldunangemessenen Strafe schafft.17 Dies konfligiert nicht nur mit den Vorgaben des BVerfG in der Lissabon-Entscheidung,18 sondern läuft auch Art. 49 GRCh zuwider.19

Ferner sind einige strafrechtliche Vorgaben so vage, dass sie in einem prekären Verhältnis zum Bestimmtheitsgebot stehen und zudem dem rechtspolitischen Ziel der Richtlinie – Vereinfachung grenzüberschreitender Korruptionsbekämpfung auf Grundlage klarer, einheitlicher Vorschriften – im Wege stehen.

4. Fazit

Die Schwachstellen des Richtlinien-Vorschlags sind so vielgestaltig und grundlegend, dass auf eine grundlegende Überarbeitung hinzuwirken ist. In der vorliegenden Fassung ist sie nicht zustimmungsfähig, zumal die Kompetenzgrundlagen in wesentlichen Teilen unklar sind und der Inhalt teils mit den Vorgaben des BVerfG konfligiert.

IV. Im Fokus: Angleichung der Strafvorschriften für Amts- und Mandatsträger

Art. 2 Nr. 5 RiL-Vorschlag stellt Personen, die auf nationaler, regionaler oder lokaler Ebene ein Amt im Bereich der Gesetzgebung innehaben, nationalen Beamten gleich (deutsche Fassung: „gilt auch“, englische Fassung: „is considered a national official“).

Damit weicht diese Richtlinie von anderen sachnahen Vorgaben des Europäischen Rechts bzw. Unionsrechts – auch solchen jüngeren Datums, etwa die RiL 2017/1371 – ab, die nur eine Angleichung bzw. Assimilierung (vgl. auch Art. 4 des EU-Übereinkommens von 2003) verlangt haben. Eine Begründung für diesen Schritt findet sich im RiL-Vorschlag nicht. Ebenso wenig finden sich Hinweise, weshalb diese Verschärfung der Harmonisierungsanforderungen notwendig ist und ob bzw. welche Spielräume dem nationalen Gesetzgeber bei der Regulierung der ihn in seinem Kernbereich treffenden Frage bleiben sollen. Auch hier stellen sich also die oben beschriebenen Fragen zur Kompetenzreklamation durch die EU.

Besonders relevant sind diese Fragen deshalb, weil diese neuartige Begriffsdefinition zu weitreichenden Folgen führt, da damit nicht nur der Anwendungsbereich der Bestechungsdelikte im engeren Sinne eröffnet wird, sondern auch aller anderen Strafvorschriften, die sich auf öffentliche Bedienstete beziehen, darunter auch der Amtsmissbrauch nach Art. 11 RiL-Vorschlag, der jede „rechtswidrige Ausübung des Dienstes“ zu eigenem oder fremdem Vorteil kriminalisiert. Dasselbe gilt für Art. 9 RiL-Vorschlag, der die zweckwidrige Bindung von Vermögen kriminalisiert.

Eine vollständige Angleichung der Vorgaben für die Amts- und Mandatsträgerbestechung ist aus einer ganzen Reihe von Gründen abzulehnen. Vorzugswürdig ist die in Deutschland seit Langem bestehende20 Differenzierung des Anforderungsprofils entlang der sachlichen Unterschiede zwischen Mandats- und Amtsträgern.

Zunächst ist auf die funktionalen und verfassungsrechtlich grundierten Unterschiede zwischen Amts- und Mandatsträger hinzuweisen. Während Amtsträger einer strikten Rechtsbindung unterliegen, weil sie Recht vollziehen, sind Abgeordnete gem. Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG nur ihrem Gewissen unterworfen, da die Schaffung von Recht ihre ureigene Aufgabe ist. Eine vollständige Angleichung der strafrechtlichen Anforderungen ist daher weder verfassungsrechtlich noch praktisch möglich. So verbietet Art. 7 Buchst. b) RiL-Vorschlag jede Verknüpfung eines wie auch immer gearteten Vorteils mit einer Handlung bei „Ausübung des Dienstes“ und damit u.a. auch politische Abreden zwischen Mandatsträgern, aber auch zwischen Abgeordneten und Verbandsvertretern, die zum Wesen politischer Kompromissfindung gehören und die daher auch nach nationalem Recht, etwa dem Abgeordnetengesetz, gerade nicht verboten sind. Hier drohen also Strafbarkeitsrisiken, die sich nur durch eine einschränkende Interpretation zurücknehmen ließen, was der Rechtssicherheit abträglich ist. Dasselbe gilt für die bereits angesprochenen Art. 9, 11 RiL-Vorschlag. Infolge einer undifferenzierten Einbeziehung von Mandatsträgern wäre künftig interpretatorisch – d.h. notfalls durch Staatsanwaltschaften und Gerichte – zu entscheiden, ob und wann eine mandatsbezogene Tätigkeit „rechtswidrig“ ist bzw. damit „Vermögen“, also Steuergelder, „zweckwidrig“ gebunden werden. Derartige, offenkundig auf Amtsträger zugeschnittene Begriffe lassen sich nicht ohne erhebliche Rechtsunsicherheiten auf die kategorial andersartigen Funktionen und Tätigkeiten von Abgeordneten übertragen. Hier drohen genuin politische Entscheidungen nationaler Gesetzgebungskörperschaften in den Anwendungsbereich gleich mehrerer Straftatbestände zu gelangen.
Beheben ließen sich diese Folgeprobleme einer vollständigen Gleichstellung nur durch eine einschränkende, funktionale Interpretation, was auch in jenen Staaten vorgezeichnet ist, die eine legalistische Gleichstellung der Personengruppen schon vollzogen haben.21 Selbst wenn sich die Strafbarkeit aber im Einzelfall durch eine restriktive Auslegung verhindern ließe, begründete dies gerade jene Rechtsunsicherheiten, die die RiL (auch) verhindern will – zum Schaden der Abgeordneten. Schon die potenzielle Gefahr, sich durch mandatstypische Handlungen in den Anwendungsbereich diverser Straftatbestände zu begeben, lässt sich aber als Eingriff in die von Art. 38 GG gewährten Rechte bezeichnen.
Zudem ist auch das Selbstorganisationrecht der nationalen Gesetzgebungskörperschaften betroffen, da diese von derart offen gefassten Straftatbeständen implizit gezwungen wären, sehr kleinteilig zu regulieren, welche mandatsbezogenen Handlungen und welche Zweckbindungen von Vermögen „rechtmäßig“ wären.
Die Gleichstellung von Ungleichem führt mithin zu Rechtsunsicherheit und erheblichen Eingriffen in die Rechte von Abgeordneten und von nationalen Gesetzgebungskörperschaften. Dabei erfordert die Bekämpfung von Korruptionsgefahren keine vollständige Gleichstellung von Amts- und Mandatsträgern, wie die Vorschläge zur Fortentwicklung des § 108e StGB und seines Umfeldes zeigen.22 Daher bedarf es auch unionsrechtlich keiner Gleichstellung, sondern lediglich einer funktionsspezifischen Angleichung („shall be assimilated“), wie sie der Bericht des Komitees für Bürgerrechte, Recht und Inneres des Europäischen Parlaments vorschlägt23 und bspw. Art. 4 Nr. 4 Richtlinie 2017/1371 verwendet.

Daher sollte darauf hingewirkt werden, dass die Richtlinie in Art. 2 Nr. 5 und/oder ihren Erwägungsgründen klarstellt, dass keine vollständige Gleichstellung von Amts- und Mandatsträgern erforderlich ist, sondern eine Angleichung. Dies ließe sich bspw. durch die in europäischen Dokumenten (RiL, Empfehlungen) geläufige Formulierung wie „shall be assimilated“ zum Ausdruck bringen.


Fußnoten


1)

Man denke zum einen an unterschiedliche Gefährdungen auf den verschiedenen Ebenen eines Staates, die wiederum von der jeweiligen Staatsorganisation abhängen, zum anderen aber auch an Gefahren, die mit den Spezifika einzelner Organisationseinheiten verbunden sind (etwa Korruption in den sehr unterschiedlich ausgestalteten Gesundheitssystemen der Staaten); zu letzteren aus spezifisch deutscher Perspektive Kubiciel/Hoven, Korruption im Gesundheitswesen, 2016.

2)

Nicht nur die Empfehlungen der Europäischen Union, etwa im sog. Europäischen Semester, sondern auch die Berichte der GRECO oder der Staatengruppe zur Implementierung der VN Konvention gegen Korruption enthalten reichhaltige, landesspezifische und problemadäquate Empfehlungen. Zum inzwischen eingestellten EU Anti-Corruption Report Hoxhaj, The EU Anti-Corruption Report, 2019; Kubiciel, HRRS 2013, 213 ff. Zu GRECO Eser/Kubiciel, Institutions Against Corruption, 2003.

3)

Vgl. dazu Meyer, Strafrechtsgenese in internationalen Organisationen, 2012, S. 863 ff.

4)

Umfassend dazu Zelikow/Edelman/Harrison/Gventer, Foreign Affairs, July/August 2020, S. 107 ff.; ferner Chayes, Foreign Affairs, November/December 2020, S. 167 ff.; Stöber, Internationale Politik 5, September/Oktober 2021, S. 78 ff.

5)

Zu den verschiedenen Arten der Verbindlichkeit, Semi-Verbindlichkeit und Unverbindlichkeit der VN Konvention siehe Landwehr in: Rose/Kubiciel/Landwehr, UN Convention Against Corruption, 2019, S. 19 ff. Am Beispiel des semi-verbindlichen Art. 21 (Bribery in the Private Sector) Kubiciel, a.a.O., S. 238 ff. bzw. des Art. 20 (Illicit Enrichment) Landwehr, a.a.O., S. 219 ff.

6)

UN General Assembly, A/S-32/1, Our common commitment to effectively (…), 28.05.2021, S. 8.

7)

Anders hingegen Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestages, WD 3-3000-117/23, wo in Bezug auf die Mandatsträgerbestechung auf eine Annexkompetenz zur RiL 2017/1371 abgestellt wird. Diese RiL dient jedoch einem anderen, begrenzteren Zweck (Schutz der finanziellen Interessen der Union), so dass die Kriminalisierung der Mandatsträgerbestechung in dieser RiL nur ein Mittel zu diesem Zweck darstellt und folglich keine Grundlage für weitere Harmonisierungsmaßnahmen bietet, die andere bzw. weitergehende Ziele verfolgt.

8)

Zutreffend kritisch BR-Drs. 244/23, S. 6; El-Ghazi/Wegner/Zimmermann, wistra 2023, 353, 362 f.

9)

Vgl. auch BR-Drs. 244/23, S. 6; El-Ghazi/Wegner/Zimmermann, wistra 2023, 353, 359.

10)

Böse in: ders., Europäisches Strafrecht, 2013, § 4 Rn. 8 unter Verweis auf BVerfGE 123, 267, 413.

11)

BVerfGE 123, 267, 411, 413.

12)

El-Ghazi/Wegner/Zimmermann, ZRP 2023, 211, 213.

13)

Kubiciel, GA 2010, 99 ff.

14)

Kubiciel, ZIS 2010, 742 ff.

15)

Kubiciel, FAZ vom 12.09.2023.

16)

GRECO, 5. Evaluierungsrunde, Deutschland, Korruptionsprävention und Integritätsförderung in Zentralregierungen (hochrangige Entscheidungsträgerinnen und -träger der Exekutive) und Strafverfolgungsbehörden, GrecoEval5Rep(2019)6, S. 42 ff.

17)
18)

BVerfGE 123, 267, 411, 413.

19)

Vgl. Eser/Kubiciel in: Meyer/Hölscheidt, Charta der Grundrechte der EU, 5. Aufl. 2019, Art. 49 Rn. 39.

20)

Peters, Der Staat 59 (2020), 485 ff.

21)

Vgl. das Abstellen auf funktionale Erwägungen durch den Spanischen Obersten Gerichtshof, STS 166/2014. Funktionale Erwägungen streiten nämlich nicht für eine vollständige Gleichstellung, sondern für eine funktionsorientierte und damit differenzierte.

22)

Vgl. etwa Kubiciel, ZRP 2023, 47; Zimmermann/Zimmermann, Verfassungsblog v. 09.06.2023; Pohlreich, Gutachten Fraktion Bündnis90/Grüne, 2023.

23)

European Parliament, 2023/0135(COD), Amendment 20, S. 2.


Immer auf dem aktuellen Rechtsstand sein!

IHRE VORTEILE:

  • Unverzichtbare Literatur, Rechtsprechung und Vorschriften
  • Alle Rechtsinformationen sind untereinander intelligent vernetzt
  • Deutliche Zeitersparnis dank der juris Wissensmanagement-Technologie
  • Online-First-Konzept

Testen Sie das juris Portal 30 Tage kostenfrei!

Produkt auswählen

Sie benötigen Unterstützung?
Mit unserem kostenfreien Online-Beratungstool finden Sie das passende Produkt!