juris PraxisReporte

Anmerkung zu:BSG 7. Senat, Urteil vom 21.06.2023 - B 7 AS 3/22 R
Autor:Dr. Stefan Meißner, Bereichsleiter
Erscheinungsdatum:30.11.2023
Quelle:juris Logo
Normen:Art 2 GG, Art 1 GG, § 90 BGB, § 811 ZPO, § 40 SGB 2, § 1629a BGB
Fundstelle:jurisPR-SozR 24/2023 Anm. 1
Herausgeber:Prof. Dr. Thomas Voelzke, Vizepräsident des BSG a.D.
Jutta Siefert, Ri'inBSG
Zitiervorschlag:Meißner, jurisPR-SozR 24/2023 Anm. 1 Zitiervorschlag

Erstattungsanspruch des Grundsicherungsträgers: Umfang der Haftungsbeschränkung für Minderjährige



Orientierungssatz zur Anmerkung

Das eine Erstattungssumme übersteigende Kontoguthaben ist zur Tilgung einzusetzen.



A.
Problemstellung
Muss das Kontoguthaben zur Tilgung einer Erstattungssumme eingesetzt werden?


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Der 1998 geborene Kläger bezog gemeinsam mit seinem Vater Arbeitslosengeld II, das der Vater für beide beantragt hatte. Er erzielte Einkommen aus Ausbildungsvergütung und zum Teil Insolvenzgeld. Die Auszahlung für Januar 2017 i.H.v. 451,87 Euro erfolgte am 15.12.2016 auf das Girokonto des Klägers, bei dem es sich nicht um ein Pfändungsschutzkonto handelte. Das Guthaben am 30.12.2016 betrug noch 48,78 Euro. Das Jobcenter setzte das Arbeitslosengeld II für November 2015 abschließend fest und forderte mit Bescheiden vom 23.03.2016 die Erstattung von 22,57 Euro. Nach Vollendung des 18. Lebensjahrs berief sich der Kläger im Widerspruchsverfahren auf § 1629a BGB; er verfüge über kein Vermögen. Widerspruch, Klage und Berufung sind erfolglos geblieben.
Auch die Revision des Klägers hatte keinen Erfolg.
Der Erstattungsbescheid sei materiell rechtmäßig, insbesondere könne das Jobcenter die Erstattung trotz der vom Kläger nach Erreichen der Volljährigkeit erhobenen Einrede der Beschränkung der Minderjährigenhaftung verlangen.
Die Höhe des Vermögens des Klägers bei Eintritt seiner Volljährigkeit stehe der Durchsetzbarkeit des Erstattungsbegehrens nicht entgegen. Der Erstattungsbescheid vom 23.03.2016 sei materiell rechtmäßig geblieben. Zwar sei § 1629a BGB auch bei auf Erstattungsforderungen nach dem SGB II beruhenden Schulden grundsätzlich anwendbar. Die Haftungsbeschränkung greife aber wegen der fehlenden Überschuldung des Klägers im Zeitpunkt der Volljährigkeit nicht. Denn bei der Berücksichtigung des Vermögens zum Zeitpunkt des Eintritts der Volljährigkeit habe das Jobcenter auch das Bankguthaben des Klägers einbeziehen dürfen.
Der Anwendungsbereich des § 1629a BGB sei eröffnet. Nach dieser Vorschrift beschränke sich die Haftung für Verbindlichkeiten, die die Eltern im Rahmen ihrer gesetzlichen Vertretungsmacht durch Rechtsgeschäft oder eine sonstige Handlung mit Wirkung für das Kind begründet haben, auf den Bestand des bei Eintritt in die Volljährigkeit vorhandenen Vermögens der volljährig gewordenen Person (§ 1629a Abs. 1 Satz 1 BGB). Die Regelung solle den Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG sicherstellen. Es gehe um einen Ausgleich dafür, dass der Gesetzgeber – insbesondere – Eltern das Recht einräume, Minderjährige im Rahmen ihrer gesetzlichen Vertretungsmacht zu verpflichten. Insoweit müsse er aus verfassungsrechtlichen Gründen gleichzeitig dafür Sorge tragen, dass den volljährig gewordenen Personen Raum bleibe, um ihr weiteres Leben selbst und ohne unzumutbare Belastungen zu gestalten, die sie nicht zu verantworten hätten.
Dass sich der Kläger auf die seine Haftung beschränkende Vorschrift des § 1629a BGB berufen hat, führe nicht zur Rechtswidrigkeit des Erstattungsbegehrens. Die Verbindlichkeit des Klägers aus der Erstattungsforderung habe bei Eintritt der Volljährigkeit nicht dessen Vermögen überstiegen. Denn die Erstattungsforderung habe 22,57 Euro betragen und lag damit unter dem Kontoguthaben von 48,78 Euro, über das der Kläger im Zeitpunkt seiner Volljährigkeit verfügte.
Maßgeblich für die Frage der Beschränkung der Haftung auf das zu diesem Zeitpunkt vorhandene Vermögen sei nicht eine im SGB II vorgenommene Bestimmung von Einkommen und Vermögen. Vielmehr bediene sich der Gesetzgeber in § 1629a BGB einer Stichtagsregelung, um „Altvermögen“ und „Neuvermögen“ voneinander abzugrenzen. Entscheidend sei daher grundsätzlich allein eine Saldierung von Schuld und Vermögen zum Zeitpunkt dieses Stichtags, also der Vollendung des 18. Lebensjahres.
Die Einordnung eines zur Verringerung oder Beseitigung von Hilfebedürftigkeit zur Verfügung stehenden Mittels als Einkommen oder Vermögen im SGB II bestimme hingegen nicht darüber, ob es sich um Neuvermögen oder Altvermögen i.S.d. § 1629a BGB handle. Für das SGB II sei keine bereichsspezifische Abweichung von der gesetzlichen Vorgabe des § 1629a BGB erforderlich, aufgrund derer der Bewertungsstichtag auf das Monatsende hinauszuschieben wäre. Insbesondere stehe die Beschränkung der Minderjährigenhaftung der Sache nach in keinem Zusammenhang mit der Bestimmung der Hilfebedürftigkeit im SGB II. Daher habe eine fortbestehende Hilfebedürftigkeit (z.B. wegen zu berücksichtigenden Vermögens unterhalb der Freibeträge) nach der bis zum 31.12.2022 geltenden Rechtslage keinen Einfluss darauf, dass die volljährig gewordene Person mit ihrem vorhandenen Vermögen gegenüber dem Jobcenter hafte. Im Übrigen sähe sich die volljährig gewordene Person nach der „Verschiebung“ des Bewertungsstichtags Nachteilen verfahrensrechtlicher oder materiell-rechtlicher Art ausgesetzt. Zum einen obläge ihr ggf. die zusätzliche Last der Errichtung eines zweiten Vermögensverzeichnisses, zum anderen wäre nach dem Eintritt der Volljährigkeit erworbenes „Neuvermögen“ i.S.d. § 1629a BGB bis zum Monatsende zwar dem Einkommen, dann aber dem Vermögen zuzuordnen und erhöhte ggf. das Vermögen als Haftungsgrundlage zu einem Stichtag „Beginn des Folgemonats“. Das im SGB II angewandte Zuflussprinzip wirke sich so aus wie alle anderen gesetzlichen Stichtagsregelungen auch. Sie könnten ihrer Natur entsprechend stets Härten bedingen, ohne die dadurch benachteiligten Personen in ihren Grundrechten zu verletzen, wenn sie nicht sachwidrig gewählt wurden.
Vermögen i.S.d. § 1629a BGB ist das Aktivvermögen der volljährig gewordenen Person bei Eintritt der Volljährigkeit. Auf ein Nettovermögen als Differenz von Aktiva und Passiva komme es nicht an. Der Schutz durch § 1629a BGB beschränke nicht nur die wertmäßige, sondern die gegenständliche Haftung. Auch wenn sie dem Aktivvermögen zuzuordnen sind, hat das BSG daher in der Vergangenheit für die im Besitz der volljährig gewordenen Person befindlichen persönlichen Gegenstände die Unpfändbarkeit nach § 811 ZPO ausnahmsweise bereits im Erkenntnisverfahren und nicht erst im Vollstreckungsverfahren berücksichtigt (BSG, Urt. v. 28.11.2018 - B 14 AS 34/17 R Rn. 23 - SozR 4-4200 § 38 Nr 5). Um den Schutz von persönlichen Gegenständen durch § 811 ZPO wird vorliegend jedoch nicht gestritten.
Ein Pfändungsschutz nach § 811 ZPO greife für das Kontoguthaben des Klägers schon nicht. Denn bei § 811 ZPO gehe es nur um die Unpfändbarkeit von Sachen, also verkörperten Gegenständen (§ 90 BGB) und nicht um Forderungen gegen Drittschuldner. Der Stand des Vermögens i.S.d. § 1629a Abs. 1 Satz 1 BGB sei nicht unter Berücksichtigung aller Pfändungsschutzvorschriften bereits im Erkenntnisverfahren zu ermitteln. Es sei daher unerheblich, ob sich das Kontoguthaben des Klägers aus Zuflüssen speiste, die nicht pfändbar wären. Vielmehr sei Ziel des § 1629a BGB, Verbindlichkeiten, die Eltern einem volljährig Gewordenen gegenüber im Rahmen ihrer gesetzlichen Vertretungsmacht durch Rechtsgeschäft oder eine sonstige Handlung begründet haben, auf den Bestand des bei Eintritt der Volljährigkeit vorhandenen Vermögens zu beschränken. Die Formulierung „Bestand des Vermögens“ lässt im Grundsatz keine weiteren Einschränkungen aufgrund vorgezogener Erwägungen zum vollstreckungsrechtlichen Schuldnerschutz zu. Lediglich bei Gegenständen des persönlichen Gebrauchs (§ 811 Abs. 1 Satz 1 ZPO) hat das BSG die Berücksichtigung einer fehlenden Herausgabepflicht des volljährig Gewordenen im Rahmen des § 1629a BGB schon im Erkenntnisverfahren zugelassen (BSG, Urt. v. 28.11.2018 - B 14 AS 34/17 R Rn. 23 - SozR 4-4200 § 38 Nr 5).
Die durch den Gesetzgeber für das SGB II ab dem 01.01.2023 gewollte weiter gehende betragsmäßige Beschränkung der Haftung für volljährig gewordene Personen greife für den Kläger nicht. Danach gelte § 1629a BGB mit der Maßgabe, dass sich die Haftung eines Kindes auf das Vermögen beschränkt, das bei Eintritt der Volljährigkeit den Betrag von 15.000 Euro übersteigt. Eine rückwirkende Geltung habe der Gesetzgeber nicht angeordnet. § 40 Abs. 9 SGB II betreffe daher (nur) Fälle, in denen minderjährige Leistungsberechtigte nach dem 31.12.2022 volljährig geworden seien.


C.
Kontext der Entscheidung
Das BSG hat mit dieser Entscheidung für Fälle bis zum 31.12.2022 Klarheit geschaffen, welche Vermögenswerte ein volljährig gewordener Leistungsbezieher im Erstattungsverfahren einzusetzen hat. Dass das Kontoguthaben ausreichte, um die Erstattungssumme zu tilgen, lag auf der Hand. Aber manchmal geht es eben um das Prinzip …


D.
Auswirkungen für die Praxis
Die Entscheidung betrifft nur Fälle bis zum 31.12.2022 und schafft für diese eine Klarstellung. Für die Zeit ab dem 01.01.2023 hat der Gesetzgeber mit dem neuen § 40 Abs. 9 SGB II eine Vorschrift eingeführt, die minderjährige Leistungsbezieher bei Eintritt ihrer Volljährigkeit wohl in aller Regel vor der Erstattungspflicht retten wird. Denn hiernach gilt § 1629a BGB mit der Maßgabe, dass sich die Haftung eines Kindes auf das Vermögen beschränkt, das bei Eintritt der Volljährigkeit den Betrag von 15.000 Euro (!) übersteigt.
Insbesondere für die Praxis der Jobcenter bedeutet dies, noch mehr Augenmerk zu legen auf die zeitnahe Aufrechnung von laufenden Leistungen mit bestandskräftigen Erstattungsforderungen.



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