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Anmerkung zu:OLG Hamburg 3. Senat für Bußgeldsachen, Beschluss vom 11.09.2023 - 5 ORbs 25/23
Autor:Dr. Benjamin Krenberger, RiAG
Erscheinungsdatum:06.12.2023
Quelle:juris Logo
Normen:§ 1 StVO, § 37 StVO, § 16 StGB, § 44 VwVfG
Fundstelle:jurisPR-VerkR 25/2023 Anm. 1
Herausgeber:Jörg Elsner, LL.M., RA und FA für Verkehrsrecht und Versicherungsrecht
Dr. Klaus Schneider, RA und FA für Verkehrsrecht und Versicherungsrecht
Zitiervorschlag:Krenberger, jurisPR-VerkR 25/2023 Anm. 1 Zitiervorschlag

Rotlichtverstoß eines Fahrradfahrers



Orientierungssätze zur Anmerkung

1. Eine Verurteilung wegen vorsätzlichen Rotlichtverstoßes ist ausgeschlossen, wenn sich die Betroffene in einem den Vorsatz ausschließenden Tatbestandsirrtum befunden hat.
2. Radfahrende sind nicht als „qualifizierte Fußgänger“ anzusehen, denen unabhängig von etwaigen straßenverkehrsrechtlichen Anordnungen nach Belieben angesonnen werden könnte oder müsste, vom Fahrrad abzusteigen und fortan als Fußgänger am Verkehr teilzunehmen.
3. Ein Rotlichtsignal, das sich aufgrund einer Funktionsstörung der Lichtzeichenanlage als „Dauerrot“ darstellt, entfaltet keine Wirkung, weil der zugrunde liegende Verwaltungsakt i.S.d. § 44 VwVfG nichtig ist; infolgedessen darf der betroffene Verkehrsteilnehmer trotz Rotlichts - wenngleich unter Wahrung höchster Sorgfaltsanforderungen - in den Kreuzungsbereich einfahren. Entsprechendes hat auch dann zu gelten, wenn eine Lichtzeichenanlage mit einer die Bedarfsschaltung auslösenden Kontaktschleife ausgestattet ist, die jedoch von bestimmten Verkehrsteilnehmern, für die die Lichtzeichenanlage Geltung beansprucht, aus technischen Gründen nicht ausgelöst werden kann.



A.
Problemstellung
Das OLG Hamburg musste sich mit einem Rotlichtverstoß eines Fahrradfahrers befassen und zugleich auch mit der Frage einer möglichen Nichtigkeit der Verkehrsregelung durch eine Lichtzeichenanlage. Ist eine solche Anlage mit einer Sensorik ausgestattet, die nur das Warten von PKW berücksichtigt, kann das Rotlicht für den Radfahrer, der das Grünlicht nicht herbeiführen kann, keine Geltung beanspruchen.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Das Tatgericht hat festgestellt, dass die Betroffene als Radfahrerin auf öffentlichen Straßen fuhr und vor der für sie Rotlicht zeigenden Lichtzeichenanlage an einer Kreuzung anhielt. Vor der Lichtzeichenanlage, die nicht defekt war, aber mit einer Kontaktschleife ausgestattet ist, wartete die Betroffene mehrere Minuten lang, ohne dass die Lichtzeichenanlage auf Grün umschaltete. Wie lange die Betroffene genau wartete, konnte das Amtsgericht nicht feststellen; es ging jedoch zugunsten der Betroffenen davon aus, dass die Wartezeit zumindest 5 Minuten betrug. Da die Betroffene einen Defekt der Lichtzeichenanlage vermutete, überquerte sie die Kreuzung bei Rot. Zu einer Gefährdung der Betroffenen oder anderer Verkehrsteilnehmer kam es dadurch nicht. Die Betroffene hätte die Möglichkeit gehabt, abzusteigen und die Kreuzung mit Hilfe einer auf der rechten Seite befindlichen, mit einem Anfrageknopf ausgestatteten Fußgängerbedarfsampel zu überqueren. Das Erstgericht hat das Tatgeschehen als vorsätzlichen, qualifizierten Rotlichtverstoß gewertet und eine Geldbuße i.H.v. 100 Euro verhängt. In den Urteilsgründen hat es ausgeführt, dass der Fall nicht vergleichbar sei mit den Fällen, in denen ein Kraftfahrer bei einer defekten Lichtzeichenanlage nach minutenlangem Warten an einer nicht auf Grün umspringenden Ampel vorsichtig in die Kreuzung hineinfahren darf: Zum einen sei die Lichtzeichenanlage vorliegend nicht defekt gewesen. Aber auch wenn die Betroffene hiervon ausgegangen sei, habe sie als Radfahrerin die Kreuzung nicht bei Rot überqueren dürfen, denn anders als einem Kraftfahrer sei es ihr möglich gewesen, vom Fahrrad abzusteigen und die nur wenige Meter entfernte Fußgängerampel zu betätigen und zu benutzen.
Das OLG Hamburg hat die Rechtsbeschwerde zur Fortbildung des Rechts zugelassen, sodann auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen das Urteil des Amtsgerichts aufgehoben und die Sache zurückverwiesen.
Eine Verurteilung wegen vorsätzlichen Rotlichtverstoßes ist schon auf der Grundlage der amtsgerichtlichen Feststellungen ausgeschlossen, denn danach hat sich die Betroffene in einem den Vorsatz ausschließenden Tatbestandsirrtum befunden. Es handelt sich bei dem von einer Lichtzeichenanlage gezeigten Rotlicht um einen Verwaltungsakt in Form einer Allgemeinverfügung, der den betroffenen Verkehrsteilnehmern gebietet, vor der Kreuzung zu halten (§ 37 Abs. 2 Nr. 1 Satz 7 StVO). Zeigt eine Wechsellichtzeichenanlage allerdings aufgrund einer technischen Funktionsstörung dauerhaft Rot, so ist der darin liegende Verwaltungsakt nichtig i.S.d. § 44 VwVfG. Die Nichtigkeit des Verwaltungsakts hängt in diesen Fällen nicht von der Eigenart der von der Lichtzeichenanlage betroffenen Verkehrsteilnehmer ab, so dass diese Folge nicht nur auf Kraftfahrer Anwendung findet, sondern auf alle Verkehrsteilnehmer, für die das Lichtzeichen im konkreten Fall Geltung beansprucht. Geklärt ist in der obergerichtlichen Rechtsprechung zudem, dass sich die irrtümliche Annahme einer zum „Dauerrot“ führenden Funktionsstörung der Lichtzeichenanlage als Fehlvorstellung im tatsächlichen Bereich darstellt, die als vorsatzausschließender Tatbestandsirrtum zu qualifizieren ist. Von einer solchen Fehlvorstellung ist nach den Feststellungen des Amtsgerichts auch die Betroffene ausgegangen.
Soweit das Amtsgericht für die Betroffene die Möglichkeit zum Absteigen und zur Benutzung der in der Nähe befindlichen, mit einem Anfrageknopf ausgestatteten Fußgängerbedarfsampel gegeben sah, verkennt es, dass die Betroffene nicht als Fußgängerin, sondern als Radfahrerin am Verkehr teilgenommen hat. Für Radfahrer gelten gesonderte Bestimmungen; insbesondere gelten für sie die Lichtzeichen für den Fahrverkehr, solange sie sich nicht auf Radverkehrsführungen bewegen, die mit besonderen Lichtzeichen für den Radverkehr ausgestattet sind (§ 37 Abs. 2 Nr. 6 StVO). Da eine solche Radverkehrsführung hier nicht vorhanden war, war für die Betroffene allein das – nach ihrer Vorstellung defektbedingt „dauerrote“ – Lichtzeichen der Anlage für den Fahrverkehr maßgeblich. Radfahrende sind auch nicht etwa als „qualifizierte Fußgänger“ anzusehen, denen unabhängig von etwaigen straßenverkehrsrechtlichen Anordnungen nach Belieben angesonnen werden könnte oder müsste, vom Fahrrad abzusteigen und fortan als Fußgänger am Verkehr teilzunehmen.
Zwar oblagen der Betroffenen beim Einfahren in den Kreuzungsbereich ungeachtet ihrer Fehlvorstellung erhöhte Sorgfaltsanforderungen. Dass die Betroffene diese Anforderungen missachtet und damit ggf. gegen das allgemeine Gefährdungs- und Behinderungsverbot des § 1 Abs. 2 StVO verstoßen haben könnte, belegen die amtsgerichtlichen Feststellungen allerdings nicht.
Für eine Verurteilung wegen eines – gleich ob vorsätzlich oder fahrlässig begangenen – Rotlichtverstoßes konnte zudem nicht offenbleiben, ob die Kontaktschleife, mit der die Bedarfslichtzeichenanlage ausgestattet ist, durch Radfahrende überhaupt ausgelöst werden konnte. Das Amtsgericht hat hierzu keine abschließenden Feststellungen getroffen. Diese technische Frage konnte indessen angesichts der möglichen Nichtigkeit der Regelung für Fahrradfahrer nicht offenbleiben. Denn die Halteanordnung käme für Radfahrer faktisch einem vollständigen Durchfahrtsverbot nahe, zumal eine Verkehrsfreigabe in Gestalt des Grünlichts (§ 37 Abs. 2 Nr. 1 Satz 1 StVO) nur dann erteilt würde, wenn sich zufällig gleichzeitig mit dem Radfahrenden ein die Anfrage auslösendes Kraftfahrzeug im Bereich der Kontaktschleife befindet. Ein solches „Regelungsprogramm“ ist mit § 37 Abs. 2 StVO unvereinbar, denn diese Vorschrift erlaubt allein die Aufstellung von Wechsel(!)lichtzeichenanlagen.
In einer neuen Verhandlung wäre dann auch zu klären, ob – wenn die Beweisaufnahme ergeben sollte, dass die Kontaktschleife im Tatzeitpunkt auch durch Radfahrende ausgelöst werden konnte – die – dann irrtümliche – Annahme der Betroffenen, die Lichtzeichenanlage zeige defektbedingt „Dauerrot“, ihrerseits auf Fahrlässigkeit beruhte (vgl. § 16 Abs. 1 Satz 2 StGB). Ob dies der Fall war, wird aufgrund der Umstände des Einzelfalles festzustellen sein, wobei der tatsächlichen Wartezeit vor der Rotlicht zeigenden Lichtzeichenanlage ein erhebliches Gewicht zukommen wird.


C.
Kontext der Entscheidung
Das OLG Hamburg befasst sich mit einer sehr spannenden Konstellation: Wann ist eine Verkehrsregelung nichtig i.S.d. § 44 VwVfG? Für Verkehrszeichen ist die Problematik bekannt, dass diese keine Wirkungen mehr zeigen können, wenn sie z.B. unleserlich oder zugewachsen sind. Dass bei einer Funktionsstörung die Nichtigkeit auch für Lichtzeichenanlagen gelten kann, ist nur konsequent, da auch diese als Allgemeinverfügung gelten. Zeigt eine Wechsellichtzeichenanlage mithin aufgrund einer technischen Funktionsstörung dauerhaft Rot, so ist der darin liegende Verwaltungsakt nichtig i.S.d. § 44 VwVfG, weil die Dauer des gezeigten Rotlichts in diesem Fall nicht mehr auf dem vom menschlichen Willen getragenen Schaltplan – der Programmierung durch die Verkehrsbehörde – beruht und sich die Unsinnigkeit eines „Dauerrot“-Gebotes ohne Weiteres aufdrängt (OLG Köln, Beschl. v. 29.04.1980 - 1 Ss 1037 B 7/79 - VRS 59, 454; OLG Hamm, Beschl. v. 10.06.1999 - 2 Ss OWi 486/99 - MDR 1999, 1264; Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, Straßenverkehrsrecht, 24. Aufl., § 37 StVO Rn. 17b; Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 47. Aufl., § 37 StVO Rn. 28). Sollte sich der Verkehrsteilnehmer im Irrtum über den Zustand „Dauerrot“ und damit eine Funktionsstörung der Lichtzeichenanlage befinden, damit einer Fehlvorstellung im tatsächlichen Bereich unterliegen, kann dies als vorsatzausschließender Tatbestandsirrtum zu qualifizieren sein (AG Dortmund, Urt. v. 17.01.2017 - 729 OWi 9/17 - VRS 131, 154). Dies lässt jedoch weiterhin Raum für eine Verurteilung wegen eines fahrlässigen Rotlichtverstoßes und – je nach Fallgestaltung – auch für ein Fahrverbot nach Ziffer 132.3 BKat: Der qualifizierte Rotlichtverstoß erfordert keine vorsätzliche Begehensweise.
Kann durch Zeugenbeweis nicht ausgeschlossen werden, dass die Kontaktspuren an der Ampel das Auslösen des Wechsellichts nur für PKW ermöglichen, muss das Tatgericht sich hierzu durch Beiziehung entsprechender Unterlagen und Expertise informieren. Denn gerade im Hinblick auf die mögliche Nichtigkeit nach § 44 VwVfG kann die Funktionsfähigkeit der Lichtzeichenanlage nicht offenbleiben (vgl. Kettler in: MünchKomm StVR, 1. Aufl., § 37 StVO Rn. 14). Auf die Erkennbarkeit dieses Fehlers für den Verkehrsteilnehmer in der konkreten Verkehrssituation kommt es nicht an, da insoweit an das Urteil eines fiktiven verständigen Dritten anzuknüpfen ist, dem die Kenntnis aller in Betracht kommenden Umstände zu unterstellen ist (BVerwG, Beschl. v. 19.10.2015 - 5 P 11/14 - NZA-RR 2016, 166, Rn. 23).
Interessant ist noch die Segelanweisung für die neue Hauptverhandlung, die das OLG Hamburg erteilt hat: Es verlangt die Feststellung der verstrichenen Wartezeit, um die fahrlässige irrtümliche Annahme eines „Dauerrots“ klären zu können. Kettler in: MünchKomm StVR führt dazu in der oben zitierten Rn. 14 zu § 37 StVO aus: „Wenn die anderen Richtungen wiederholt Grün bekommen haben, ohne dass man selbst Grün gesehen hat, kann man davon ausgehen, dass man nicht bedient wird. Aber auch der Zeitablauf kann ein Indiz für einen Ampeldefekt sein. Je nach Verkehrslage dürften drei bis fünf Minuten die äußerste Grenze sein, wenn es sich nicht gerade um eine Baustellenampel an einer ersichtlich sehr langgestreckten Außerortsbaustelle handelt.“ Wenn das OLG Hamburg nun meint, das AG Dortmund habe die Problematik des Zeitablaufs „offenkundig übersehen“, ist dies nicht etwa als Kritik zu verstehen. Das AG Dortmund (Urt. v. 17.01.2017 - 729 OWi 9/17 - VRS 131, 154) hat zwar festgestellt, dass der dort Betroffene fünf Grünphasen abgewartet hatte, hat aber gerade keine Feststellungen zur verstrichenen Zeit getroffenen und zudem die Möglichkeit nicht angesprochen, dass der Betroffene nicht einmal fahrlässig gehandelt haben könnte. Denn Element der Fahrlässigkeit ist auch immer eine subjektive Komponente: Die Fahrlässigkeitsschuld setzt, neben der Verantwortlichkeit, die persönliche, subjektive Sorgfaltspflichtverletzung voraus. Diese ist – wie die objektive – zusammengesetzt aus der Vorhersehbarkeit des tatbestandsmäßigen Erfolges und der Vermeidungspflicht, allerdings nicht aus der Sicht des objektiven Beobachters, sondern hier nach den Fähigkeiten des Täters im Moment der Handlung. Zu fragen ist, ob der Täter durch die pflichtschuldige Anspannung seines konkreten Erkenntnisvermögens in der Lage gewesen wäre, das Unrecht zu vermeiden (Krenberger/Krumm, OWiG, 7. Aufl. 2022, § 10 Rn. 38).


D.
Auswirkungen für die Praxis
Fahrradfahrer verdienen im PKW-dominierten Straßenverkehr besonderen Schutz, dies hat sich schon in der letzten StVO-Novelle deutlich gezeigt. Dann müssen aber auch Verkehrszeichen und Allgemeinverfügungen auf die Besonderheit einspuriger Fahrzeuge abgestimmt sein. Ist dieser Umstand nicht sicher, muss das Gericht entsprechende Untersuchungen vornehmen.
Der hier problematisierte Fahrlässigkeitsaspekt bei der Frage des „Dauerrots“ darf nicht mit der Problematik verwechselt werden, dass es Verkehrsteilnehmern nicht zusteht, ein Verkehrszeichen zu interpretieren (z.B. Zeichen 274 Mo-Fr vor Kindergärten und Geltung an Feiertagen). Denn hier geht es nicht darum, das Rotlicht mit Halteanordnung als Allgemeinverfügung inhaltlich in Frage zu stellen, sondern von der Wirkung für den konkreten Verkehrsteilnehmer.



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